Was schön war, Donnerstag, 2. Februar 2017 – Alte Bücher
Nachdem ich den Mittwoch damit verbracht habe, meine Hausarbeit zu Amnesty International ein allerletztes Mal Korrektur zu lesen und auszudrucken, konnte ich sie gestern abgeben. Einmal in physischer Form, indem ich den Ausdruck in den Briefkasten der Dozentin warf, einmal in digitaler Form als PDF per Mail.
Zur Abgabe einer Hausarbeit gehört bei mir auch immer der kathartische Akt der Buchrückgabe. Im Laufe einer Arbeit sammele ich über München verstreut kleine Bücherberge, zum Beispiel in den Lesesälen von Stabi und UB oder im Ablagefach des Zentralinstituts für Kunstgeschichte. Dazu kommt der eigene Schreibtisch, auf dem die Bücher thematisch geordnet rumliegen; bis gestern gab es den Stapel „Amnesty“ und den Stapel „Leo“, der sich allerdings auch schon auf einen Stuhl und das Regal hinter mir ausgedehnt hat, weil ich zu Leo noch mappenweise Korrespondenz und ausgedruckte Bilderlisten habe. Den Amnesty-Stapel konnte ich nun aber abtragen. Die UB-Bücher hatte ich bereits am Dienstag zurückgegeben, die Stabi-Bücher waren gestern dran.
So trug ich den Stapel zur Rückgabe im Erdgeschoss und ging dann gleich nach nebenan, um Nachschub aus der Ausleihe zu holen. (Unter anderem ein paar Bücher, die mir sowohl für die Leo-Hausarbeit als auch für die Masterarbeit, deren Bearbeitungszeit offiziell Ende Februar beginnt, helfen sollen.) Dann ging ich in den ersten Stock, wo ich zunächst an der Infotheke meine zurückgelegte Mikrofichesammlung endgültig zurückgab; danach schleppte ich vier riesige Zeitungsbände der Süddeutschen und des Münchner Merkur zur Rückgabetheke sowie zwei Jahresberichte von AI. Für die Zeitungsbände gönnte ich mir einen der Rollwägen, die ich bisher immer verschmäht hatte, aber gestern dachte ich mir, ach, machste mal kurz Krach und rollst zehn Kilo Zeitung durch den Lesesaal. War super.
Der letzte Gang führte mich in den Handschriftenlesesaal, in dem ein letzter Jahresbericht von AI lag, der wieder ins Magazin durfte. Nachdem ich das erledigt hatte, ging ich in die Schatzkammer, an der ich die letzten Wochen nur eilig vorbeigelaufen war. Wenn ich in der Stabi bin, ist das für mich Arbeit, die will ich erledigen und dann nach Hause. Ich habe auch nie verstanden, warum Leute in der Agentur gerne ewig um Kickertische und Kaffeemaschinen rumstanden; ich saß lieber am Schreibtisch und hatte um 18 Uhr Feierabend.
Aber gestern war diese Arbeit erledigt, das letzte Buch war weg und ich konnte meinen Kopf in mittelalterliche Handschriften und Drucke stecken. Das könnt ihr bis zum 24. Februar übrigens auch, und das lohnt sich sehr. Hier sind alle Bücher schon mal vorab zu betrachte, aber wie immer ersetzt natürlich nichts das Original. Vor allem ist es schlicht toll, in zwei Räumen zu stehen, die Schatzkammer heißen und sich auch so anfühlen. Im Sommer besonders, denn die Räume sind immer schön runtergekühlt.
In einem Lehrbuch konnte ich ein Bild Albrecht Dürers bewundern, der den Lesern (und Leserinnen?) die Perspektive mittels eines Gitters beibrachte. (Ich kannte bereits die Arbeit Albertis dazu sowie diese bekannte Darstellung Dürers.) Dann erfreute ich mich am angeblich ältesten modernen Atlas der Welt von Johannes Schott, der 1513 gedruckt wurde. Die aufgeschlagene Seite zeigt die neu entdeckten Gebiete Amerikas und darunter einen riesigen Blob namens Terra Incognita. Ebenfalls toll: eine gezeichnete Weltkarte von Martin Waldseemüller, den den Globus in Segmente unterteilt hatte. Auch hier war Amerika schon zu sehen, aber noch längst nicht in der Größe, die heute bekannt ist. Das sah sehr seltsam und rührend aus und es warf mich kurz in eine Gedankenschleife, die mit der Star-Trek-Enterprise-Musik unterlegt war: It’s been a long road. Ich musste daran denken, was wir alles gelernt hatten über die letzten Jahrtausende hinweg – und dann fiel mir ein, dass wir das anscheinend alles gerne wieder vergessen. Anders kann ich mir schlicht nicht erklären, wieso derzeit gerne Idioten gewählt werden, die Ansichten vertreten, von denen ich dachte, wir hätten die durchgedacht und uns im gesellschaftlichen Konsens dafür entschieden, sie als rückständig und doof hinter uns zu lassen. Falsch gedacht.
Eine Abbildung aus dem Ring bzw. der Begleittext dazu ließ mich dann aber wieder fröhlich werden, denn ich lernte die Namen des Liebespaares Bertschi Triefnas und Mätzli Rüerenzumph kennen. Sehr beeindruckt hat mich eine touronische Bibel, die im frühen 9. Jahrhundert geschrieben wurde. Ich erinnerte mich an die Mittelalterseminare, die ich im Laufe des Studiums genossen hatte und freute mich, dass ich wusste, was ich da vor mir liegen hatte. Gleichzeitig schaute ich mir die Pergamentstruktur der verschiedenen Bücher genauer an und bewunderte die Feinheit der Seiten, genau wie das Schriftbild und die kaum oder gar nicht verblassten Farben. Mir strahlten gold und blau entgegen und ich erfreute mich an kleinen Details in einem Lehrbuch für Schmuckformen der Buchmalerei wie Ranken, Früchte und Tierfiguren. Auch in der Ottheinrich-Bibel verlor ich mich in Details und bewunderte die vielförmigen Pflanzen auf dem aufgeschlagenen Blatt. Und dann sah ich noch meine erste Gutenbergbibel. Was die Stabi halt so im Depot hat.
Das war eine schöne, ruhige Pause, bevor es wieder an den Schreibtisch ging. Manchmal brauche ich eine kleine Versicherung, dass die Menschheit nicht ganz so blöd ist wie ich derzeit denke. Alte Bücher scheinen eine gute Therapie zu sein.
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Die Hamburger Staatsbibliothek hat einen Talmud nach Israel restituiert.
„Das Ehepaar Loebenstein wurde am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Rahel Loebenstein starb dort knapp zwei Jahre später im April 1944. Eliesar Loebenstein wurde am 9. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihr in Hamburg zurückgelassener Besitz wurde wie aller jüdische Besitz umgehend nach Deportation beschlagnahmt und öffentlich versteigert. „Verbotene Literatur“ – und dazu gehörte jegliche jüdische Religionsliteratur – nahm die Gestapo beiseite und bot sie verschiedenen öffentlichen Bibliotheken an, so auch der Stabi. Diese Bücher sollten nur unter Auflagen zugänglich gemacht werden. Welchen Weg der großformatige, 15bändige Talmud genau nahm, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Klar ist, dass er in den Bestand der Stabi gelangte und von dort als Dauerleihgabe in das Institut für die Geschichte der deutschen Juden kam.“
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Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich starten in ihren Blogs eine Interview-Reihe:
„Wir sprechen mit Fotografen, die im letzten Jahrhundert ein Genre entdeckt oder maßgeblich beeinflusst haben, das als solches bisher nur wenig Beachtung gefunden hat. Wie ist die Lebensmittel-Fotografie entstanden? Und wer hat die ästhetischen Standards, von denen Instagram-Foodies noch heute profitieren, gesetzt? Unser erster Gesprächspartner ist Christian Teubner, der in den 1950er Jahren begonnen hat, Essen zu fotografieren.“