Was schön war, Mittwoch, 17. Januar 2018 – 100 Metronome
Gestern abend saß ich im Herkulessaal und lauschte den Münchner Symphonikern sowie ihrem Gast Alexej Gerassimez, einem Percussionisten.
Ich war noch nie im Herkulessaal und freute mich erstmal über die Nachkriegsarchitektur, die meiner Meinung nach nur haarscharf an der NS-Architektur vorbeigeschrammt war. Dann freute ich mich über die bequemen Stühle und die Beinfreiheit im Parkett, wo ich endlich mal wieder saß. Und dann freute ich mich über die Gelbe Couch, eine kleine viertelstündige Gesprächsrunde, die bei einigen Konzerten der Symphoniker angeboten wird. Dabei erzählt der Gast dann gerne was, jedenfalls war das gestern so. Gerassimez wurde gefragt, ob er ein bisschen was zeigen könnte, woraufhin der charmante und eloquente Herr sein Smartphone zückte und erzählte, dass er gerne Rhythmen oder Klänge aufnehme. Das erste, was er uns vorspielte, waren die klackenden Schaltungen an Fußgängerampeln. Dann kam ein Geräusch, was ich nicht identifizieren konnte, aber ich glaube, das ging allen im Saal so. Ich habe es mir vermutlich nicht ganz korrekt gemerkt, aber es war etwas Ähnliches wie eine klickernde Zeitschaltuhr im Bad eines Hotelzimmers. Das letzte hielt ich für einen nicht anspringenden Trabant, aber es war der Drucker seines Freundes.
Gut gelaunt wartete ich dann auf den Beginn des Konzerts. Am Bühnenrand standen bereits 100 Metronome für das erste Stück: Poème symphonique – Musikalisches Zeremoniell für 100 Metronome von György Ligeti. Auf YouTube gibt es mehrere Versionen, ich habe mal die hier genommen. Dort werden alle Metronome gleichzeitig in Gang gesetzt (oder halbwegs gleichzeitig), es gibt auch Versionen, in denen das nach und nach passiert. Die Dinger sind auf eine bestimmte Dauer eingestellt, irgendwann hört man 100, dann ganz allmählich nur noch eins, bis auch das verstummt. Mir wurde gestern erzählt, dass bei der Uraufführung 1962 eine Panne passierte und das verdammte letzte Metronom partout nicht aufhören wollte. You go, girl!
Bei uns traten gestern acht Menschen an den Bühnenrand und setzten die Metronome halbwegs gleichzeitig in Gang. Das Publikum verstummte leider nicht so schnell wie ich es mir gewünscht hätte, obwohl das stille Orchester, das hinter den Metronomen schon Platz genommen hatte, doch deutlich machte, dass das Konzert jetzt losgeht. Ich fand es sehr spannend, welche Dynamik 100 klackernde Kästchen entwickeln; ich musste an Vogelschwärme denken (murmurations), die sich zusammenfinden, scheinbar eine Formation bilden und sie sofort wieder verlassen. So ging es mir auch, mein Gehirn wollte immer eine Struktur im Geklacker finden, ich bildete mir auch ein, für einen winzigen Augenblick eine erfasst zu haben, aber da war sie schon wieder weg. Nach und nach klickten immer weniger Metronome, ich meinte, nur noch rechts etwas zu hören, aber da war plötzlich links wieder was, aber schließlich war es wirklich nur noch eins.
In diesem Moment kamen der Dirigent und Gerassimez auf die Bühne und letzterer schlug, wenn ich das aus der 23. Reihe richtig erkannt habe, mit einem Drumstick auf ein Klangholz ein, schön im Takt vom Metronom, gefühlt minutenlang. Ich fragte mich irgendwann, wie man aus dieser Nummer jemals wieder rauskommen könnte, als er plötzlich den Takt veränderte. Wo er eben noch synchron mit dem Metronom war, spiele er jetzt quasi dagegen an. Ein kleines Metronom und ein Klangholz und der ganze Saal war ruhig. Irre meditativ und gleichzeitig hochspannend.
Dann trug die Indendantin das arme kleine klackernde Metronom hinter die Bühne, während Gerassimez weiter den Takt hielt – und plötzlich begann das zweite Stück, Frozen in Time von Avner Dorman. Das war dann eine halbe Stunde, in der ich überhaupt nicht zum Denken kam, sondern nur staunte und zuhörte. Ich war überrascht davon, wie sehr Percussion den gewohnten Klang eines klassischen Orchesters verändern kann. Mittendrin konnte ich Instrumente gar nicht mehr erkennen; irgendwann kam eine Stelle, die für mich nach Morsezeichen klang, und ich hätte nicht sagen, wer diesen Klang gerade erzeugte.
In der Pause war mein Gehirn dann wieder da und ich dachte darüber nach, was Gerassimez auf der Gelben Couch noch gesagt hatte: dass er seinen Arbeitsplatz quasi für jedes Stück neu aufbauen müsse, je nachdem, ob nun mehr Schlagzeug, mehr Vibraphon oder mehr Cowbells darin vorkämen. (Bei „Cowbells“ ging bei mir kurzfristig nichts mehr, ist klar.) Ich fand es sehr spannend, ihm beim Arbeiten zuzusehen, denn natürlich war sein Bewegungsradius größer als der der anderen Musiker*innen hinter und neben ihm, konnte dem Stück aber nicht so folgen wie ich gewohnter klassischer Musik folge. Aber genau das fand ich so toll; ich wusste nie, was in der nächsten Sekunde passierte und konnte es auch nicht vorausahnen – im Gegensatz zum Haydn, der nach der Pause kam und wo man, wenn man ein paar klassische Stücke gehört hat, grundsätzlich ahnte, wie es weitergeht. Das hier war eine klingende Wundertüte und ich habe sie sehr genossen.
Auch die Zugabe, eine Eigenkomposition Gerassimez’, war spannend; ich wusste nicht, wieviele unterschiedliche Klänge man aus einer Snare Drum herausbekommen kann.
In der Pause las ich mein neues Buch, das sich als sehr pausenkompatibel herausstellte: Es hat perfektes Handtaschenformat, und weil in ihm einzelne Aufsätze sind, kann man es in Häppchen lesen. So erfuhr ich schlaue Dinge über Ulysses, die sogar zum Konzert passten. Genau wie das Klangmeer, in das ich eben unvorbereitet geworfen wurde, lese ich Ulysses: ahnungslos, aber neugierig. Und so wie Ligeti und Dorman aus bekannten Noten etwas völlig Neues bastelten, nutzte Joyce die Sprache. Das Buch ist „eine große Chance, das Lesen wieder einzuüben, schon weil darin die Sprache selber auch zum Gegenstand wird. Ulysses wandelt die Möglichkeiten der Sprache ab, die subjektiven Versuche, die Welt und sich selbst zu benennen und mitzuteilen.“ (Fritz Senn: Nichts gegen Joyce. Aufsätze 1959–1983, hrsg. von Franz Cavigelli, Zürich 1983, S. 33/34.)
Der zweite Teil des Konzerts war dann etwas blasser. Die Uhr von Haydn plüschte so vor sich hin, und ich konnte im Kopf den Blogeintrag vorformulieren, aber die Rosenkavalier-Suite von Richard Strauss konnte mich dann wieder fesseln.
Auf dem Weg nach Hause stand ich an einer Bushaltestelle, wo das City Light Poster knarzend durchwechselte. Mein erster Gedanke war: Meine Güte, machst du Krach. Mein zweiter war allerdings: Gerassimez würde jetzt vermutlich sein Smartphone zücken. Und so lauschte ich grinsend diesem neuen Klang, bis mein Bus kam.