Was schön war, Dienstag, 17. April 2018 – Über Fotografie nachdenken
Gestern fand die Vorlesung statt, die letzte Woche ausfiel. Beim erneuten Betreten des Gebäudes fiel mir auf, dass ich mich bei der Schrift über dem Eingang arg verlesen hatte – da steht nicht Geisteswissenschaften, sondern Geowissenschaften, und schon machen die ganzen Geodenschaukästen deutlich mehr Sinn. Ähem.
Die Dozentin hatte gleich mit ihren ersten Sätzen bei mir gewonnen: „Diese Vorlesung heißt ‚Theorie und Geschichte der Fotografie‘ und das ist natürlich größenwahnsinnig.“ Auch wenn die Fotografie noch eine recht junge Kunstrichtung ist – und ob sie überhaupt Kunst ist, wurde auch recht lange diskutiert –, ist es nicht möglich, alle theoretischen Fragen zu ihr in elf Sitzungen abzuhandeln. Genau deswegen interessierte ich mich aber für diese Stunden, denn mit Bildtheorie habe ich mich nicht so oft beschäftigt. Mit den Akteuren und Akteurinnen anscheinend aber doch mehr als ich dachte, denn in der zweistündigen Übersicht über die kommenden Sitzungen kamen keine Namen vor, die ich noch nicht kannte. Das überraschte mich dann doch.
Zunächst sprach die Dozentin aber davon, dass Fotografie für sie auch deshalb interessant ist, weil sie keine „Meistererzählung großer Männer“ ist, was die Kunstgeschichte sonst gerne für sinnvoll hält (das ändert sich netterweise gerade). Außerdem ist die Fotografie ein Medium, mit dem sich auch andere Wissenschaften befassen, zum Beispiel die Politik- oder Naturwissenschaften sowie die Technikgeschichte. Überhaupt sei Fotografie eben nicht die Abfolge von Motiven und Stilen, die ich sonst aus der Kunstgeschichte kenne, sondern eher eine Entwicklung von Techniken und Möglichkeiten, die sich durchaus an aktuellen Zeitströmungen orientiert, manchmal aber auch bewusst von ihnen weggeht.
Sie zitierte Oliver Wendell Holmes, den Erfinder des Stereoskops, der bereits 1859 (!) davon sprach, dass es nur ein Kolosseum gebe, aber eine Billion Aufnahmen davon. Ihm war die Form dieses Bauwerks wichtiger als die Materie; er träumte davon, alle weltlichen Dinge abzulichten und so ihre Form zu erhalten, wenn auch nicht ihr stoffliches Dasein, denn das sei vernachlässigenswert. Bildagenturen entstanden sehr schnell; was wir heute mit einer Suche bei Google Images machen, gab es quasi schon Mitte des 19. Jahrhunderts.
Das Zitat von Holmes, das wir auf der Folie sahen, stammt aus dem Buch Theorie der Fotografie von Wolfgang Kemp, den ich persönlich sehr gerne lese; ich gebe den Buchtipp einfach mal weiter. Ein etwas günstigerer Tipp wäre Peter Geimers Theorien der Fotografie von 2009, aus dem der schöne Begriff „Bilder durch Berührung“ stammt, mit dem er Fotografie von zum Beispiel Malerei abgrenzt.
In den kommenden Wochen beschäftigen wir uns mit den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten von Fotografie, über die ich so auch noch nicht nachgedacht habe. Wir beginnen mit der Fotografie als politisches Instrument, angefangen von Kriegsfotografie (der erste fotografisch festgehaltene Krieg war der Krimkrieg) bis hin zu heutigen Bildern des sogenannten Islamischen Staats, die nur produziert werden, um Schrecken zu verbreiten. (Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten.) Dann sprechen wir über den wissenschaftlichen Einsatz von Fotografie; wir sahen die bekannten Aufnahmen des galoppierenden Pferdes, die erstmals zeigen konnten, dass die Tiere bei dieser Gangart wirklich in einigen Augenblicken kein Bein am Boden mehr haben, was auch auf die malerische Darstellung von Pferden abstrahlte. Dass die Fotografie auch dazu genutzt wurde, angeblich wissenschaftliche Theorien zu bestätigen, lernten wir anhand von Aufnahmen aus einem französischen (oder englischen, ich habe nicht mitgeschrieben) Hospital, wo irgendein Arzt das Krankheitsbild der hysterischen Frau fotografisch belegen wollte.
Von da war es nur noch ein kurzer Weg zur Fotografie zur aufklärerischen Zwecken. Wir sahen die ersten Polizeifotos, die damals schon das heute bekannte Schema von Frontal- und Seitenansicht abbildeten (kurz vor der Jahrhundertwende, wenn ich mir das richtig gemerkt habe). Es gibt auch Aufnahmen von Ohren und Nasen der Kriminellen, was mich sofort an die Rasseklassifizierungen der Nationalsozialisten denken ließ.
Ich hatte mir aus einer anderen Vorlesung mal gemerkt, dass die Fotografie gerade im Weimar der 1920er Jahre eine recht weibliche Kunst war, was ich gestern ebenfalls hörte. Gerade weil die Fotografie eben nicht die erwähnte Meisterzählung der Kerle war, waren viele Fotokünstler weiblich. (Ausstellungskatalog Fotografieren hieß teilnehmen, das Inhaltsverzeichnis ist unten auf der Seite abrufbar.)
Dann ging es im Schnelldurchlauf durch die 1970er und 1980er Jahre, wo natürlich Richard Prince und Cindy Sherman erwähnt wurden sowie die Bechers und ihre diversen Schüler. Die Dozentin zitierte einen der vermutlich bekanntesten Becher-Schüler (und den teuersten), Andreas Gursky, der über die Bechers meinte, sie würden die Fotografie genau nicht so nutzen wie sie eigentlich zu nutzen wäre. Die Fotografie rühmt sich gerne, den einen besonderen Augenblick festhalten zu können, und genau so arbeiteten die Bechers mit ihren kühlen, stillen, minimalistischen Ansichten für die Ewigkeit gerade nicht.
Den Abschluss, und das fand ich bemerkenswert, werden dann Social Media und Selfies bilden. Bemerkenswert, weil sehr aktuell und noch nicht so recht kunsthistorisch eingeordnet und abgehakt. Das klang alles sehr spannend und ich freue mich auf die nächsten Wochen.