Tagebuch, Freitag, 4. Mai 2018 – Schlechte Laune
Seit Tagen trage ich so einen blöden seelischen Klotz mit mir rum und bis jetzt hat noch keine Strategie funktioniert, um ihn loszuwerden. Gut, dass mir noch das Allheilmittel Bibliothek eingefallen ist. Bonus: mit dem Fahrrad in die Bibliothek kommen.
Ich musste eh ein paar Bücher zurückbringen, die ich auf diverse Eckchen meiner Wohnung verteilt hatte. Nun auf einem Haufen merkte ich erst, wie irre schwer sie waren. Kunstkataloge! Ich werde nie aufhören, mich über euch Gewicht zu beschweren! Ich glaube, mit meinem eigenen Körpergewicht und dem wirklich fies bepackten Gepäckträger dürfte ich an die in der Bedienungsanleitung erwähnte Belastungsgrenze meines Fahrrads gekommen sein.
Ich eierte also zur Uni-Bib, zerrte dort die gefühlt 20 Kilo Bücher zum Rückgabeschalter und ging dann in den Lesesaal, wo eine Fernleihe auf mich wartete: „Dich ruft dein Volk. Gedichte für die Klassen 3 bis 6“ von 1941, ein Lesebuch für Mittelschulen. Im KVK war ich mal wieder auf der Suche nach Werken von oder über Carl Theodor Protzen gewesen und stieß auf dieses Werk, bei dem ich Illustrationen von ihm erwartete. Oder erhoffte. Leider Fehlanzeige; das Ding war einer der vielen Treffer, die ich inzwischen kenne, wo irgendein Carl und irgendein Theodor vorkommen und irgendwo das Verb „protzen“. Durch die Suche im Bundesarchiv weiß ich inzwischen auch, dass eine Protze ein militärisches Ausrüstungsstück ist, die im Plural irrsinnig gerne in Archivmaterial auftaucht und mich verwirrt, wenn ich die Bestände bis 1945 durchwühle.
Pflichtschuldig blätterte ich das Ding trotzdem mal durch, denn Quellen sind ja immer spannend. Nicht spannend genug, um mir etwas zu notieren, daher zitiere ich jetzt aus dem Gedächtnis. Es gab Abschnitte über das Deutschsein an sich, über den Dienst am Volk (dort mischten sich lustig alte Gedichte mit Sprüchlein von Baldur von Schirach), es gab einen Abschnitt zum Handwerk, was mich interessierte, weil die Bilder, mit denen ich mich gerade beschäftige, auch aus dieser Ecke kommen (Handwerk, Arbeit, Industrie, das ist für mich erstmal alles ein großes Thema). Ich stellte fest, dass auch hier, noch 1941, eher das klassische Handwerk (Tischler, Schmied) sowie das Bauerntum vertreten waren, während die Schwerindustrie oder moderne Fertigkeiten nicht vorkamen. Der übliche Kontrast des NS-Staats zwischen hochmodernem Industriestaat, der er war, und der Ideologie der kleinen Scholle, die es längst nicht mehr in der Anzahl gab, wie es zum Beispiel die vielen Bauernbilder auf der Großen Deutschen Kunstausstellung vermuten lassen.
Nebenbei entdeckte ich die einzige Ballade, die ich in der Schule auswendig gelernt hatte: Die Füße im Feuer von Conrad Ferdinand Meyer. „Wild zuckt der Blitz. Im fahlen Lichte steht ein Turm.“ Mehr weiß ich nicht mehr. (Mal nachschlagen.)
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Mit dem Büchlein war ich in 20 Minuten fertig. Das reichte nicht, um meine Laune wesentlich zu bessern, also radelte ich ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte, wo immer alles gut wird. Dafür musste ich auf die Barer Straße einbiegen, auf der ich ungern Rad fahre, denn dort fährt auch die Tram, was bedeutet, dass dort Schienen liegen, vor denen ich großen Respekt habe. Die Straße ist außerdem recht schmal; rechts und links parken natürlich (natürlich) Autos, und gestern parkte dazu noch jemand so dusselig rechts, aber hey, mit Warnblinker, dass man als Radler*in nicht vorbeikam, ohne einen Schlenker über die Schienen zu machen, um in deren Mitte zu fahren, um am Auto vorbeizukommen. Vor mir versuchte das ein junger Mann auf einem Rennrad, und es passierte das, wovor ich immer Angst habe: Er fuhr einen zu kleinen Bogen, sein Radreifen blieb in der Schiene hängen und er machte einen halben Salto über den Lenker. Ich hielt sofort an, fragte, ob er okay sei; er suchte seine Brille, die ihm von der Nase gefallen war und meinte, es ginge ihm gut. Wir schoben sein Rad an die Seite; inzwischen hatte noch eine andere Radfahrerin angehalten. Der Mann blutete ein bisschen am Kinn und hatte aufgeschürfte Hände, aber ansonsten schien es ihm gut zu gehen. Die Dame bot an, ihm schnell beim Rossmann gegenüber – vermutlich das Ziel des dusselig geparkten Autos – ein Pflaster zu besorgen, aber er lehnte ab, bedankte sich, dass wir angehalten hätten, und dann radelten wir Frauen weiter.
Im ZI angekommen, holte ich mir einen Berg an Büchern und vertiefte mich in mein übliches Thema. Gestern wollte ich mich mehr über die Neue Sachlichkeit schlau machen, über die ich zwar schon viel weiß, aber im ZI stehen noch ungefähr 1000 Bücher dazu, in die ich noch nicht reingeguckt habe. Ich suchte nach einem bestimmten Verfasser, den ich für eine Koryphäe auf diesem Gebiet halte und las ein paar Aufsätze von ihm. Über ihn gelangte ich zu einem anderen Aufsatz, der sich mit der Aktion „Entartete Kunst“ von 1937 befasste. Dort fand ich einen Gedanken, der für mich neu war – und irgendwie unangenehm.
„The „Entartete Kunst“ action created a canon, so to speak, that had not existed previously. For modernism had by no means gained complete acceptance in the Weimar Republic. Rather, this period between World War I and the National Socialist takeover of power war marked by numerous struggles over avantgarde currents. Adolf Behne and Günter Busch drew attention to the rifts in the reception of German modernism. For example, Expressionism was declared dead for the first time as early als 1919. But it experienced a stigmatization from the condemnation in 1937 that ultimately became a precondition for its postwar success. The „Entartete Kunst“ action made German modernism so prominent that its reactivation after the war was all but inevitable.“
(Heftrig, Ruth: „Narrowed Modernism. On the Rehabilitation of ‚Degenerate Art‘ in Postwar Germany“, in: Peters, Olaf (Hrsg.): Degenerate Art. The Attack on Modern Art in Nazi Germany, 1937, München/London/New York 2014, S. 258–281, hier S. 258. Die im Aufsatz erwähnten Titel sind Busch, Günter: Entartete Kunst. Geschichte und Moral, Frankfurt am Main 1969 und Behne, Adolf: Entartete Kunst, Berlin 1947.)
Die Idee, dass die klassische Moderne heute auch deshalb einen Platz im Kanon der deutschen Kunstgeschichte gefunden hat, weil die Nazis sie verdammte, hatte ich so unverblümt ausgesprochen noch nie gelesen. Es passt aber auch zum genauen Gegenteil: Jede Kunst, die zwischen 1933 und 1945 als systemkonform galt, hatte es nach 1945 schwer, als Kunst ernstgenommen zu werden und nicht nur als Ideologie, Propaganda oder Auftragskunst zu gelten. Genau das versuchen wir ja gerade: diese Kunst wieder als Kunst zu sehen. Oder zumindest zu überprüfen, ob sie eben mehr ist als Ideologie. Ist sie meistens nicht, keine Angst, wir müssen jetzt nicht alle Herrenmenschen von Thorak toll finden, aber, und auch das las ich gestern des Öfteren, der Blick auf einzelne Künstler*innen lohnt sich eben doch. Deswegen ärgere ich mich auch schon länger über einen Satz in der Wikipedia über Protzen: „Protzen gilt als zurecht vergessener Künstler.“ Das sehe ich etwas anders. Ein Bild von ihm hängt im Saal 13 der Pinakothek der Moderne, insofern finde ich dieses Urteil vorschnell.
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Nach fünf Stunden Lektüre war die Laune deutlich besser, ich hatte ein paar schöne Dinge gefunden und notiert, legte mir wieder einen Handapparat an und bestellte noch ein Buch aus dem Magazin, das nicht im Freihandbestand vorhanden war. Dann setzte ich mich wieder auf mein Fahrrad und radelte nach Hause – was leider nicht ohne Hindernisse ging.
Schon 300 Meter vom ZI weg nahm mir ein Transporter die Vorfahrt, als er rechts abbog und mich auf dem Radweg übersah. Ich konnte aber noch bremsen, brüllte wie immer irgendwas Unflätiges und radelte weiter. Laune war schon schlechter. Dann bog ich in die Fahrradstraße in der Nähe meiner Wohnung ein, über die ich mich immer freue, denn hier habe ich Vorfahrt und bin die Königin der Straße und alle Autos müssen hinter mir fahren. Die Straße ist gerade 200 Meter lang, aber immerhin. Rechts und links parken natürlich (natürlich) Autos, weswegen die Straße eine Einbahnstraße ist, die von Radler*innen aber in beide Richtungen befahrbar ist. Ich bog also ein und sah, dass mir ein Auto entgegenkam. Ich sah allerdings auch eine fette Lücke auf der vom Auto aus rechten Seite, wo der Herr entspannt hätte kurz reinfahren können, um mich vorbeizulassen. Tat er aber nicht. Ich war davon so überrascht, dass ich die Lücke auf meiner Seite übersah und so landeten wir bei der unerquicklichen Situation, dass er anhalten und ich mein Rad an seinem Außenspiegel vorbeischieben musste. Das nervte mich schon kolossal, aber der Herr meinte, er müsse sein Fenster noch runterkurbeln und mich anbrüllen: „WO SOLL ICH DENN HIN? WO SOLL ICH DENN HIN?“ Woraufhin ich leider nicht die Ruhe und Souveränität hatte zu sagen: „Guter Mann. Direkt hinter Ihnen ist eine Lücke, in die Sie nur einen halben Meter hätten reinfahren müssen, dann wäre ich an Ihnen vorbeikommen und Sie hätten nicht mal anhalten müssen.“ Stattdessen brüllte ich sofort zurück: „DAS IST NE FAHRRADSTRASSE! DA IST NE LÜCKE!“ Ich glaube, wir brüllten beide solange, bis ich an ihm vorbeigeschoben war und warfen uns auch noch unfreundliche Schimpfworte an den Kopf.
Den kurzen Restweg nach Hause war ich damit beschäftigt, sehr tief zu atmen, um nicht Tauben anzubrüllen oder die Luft oder die Kirche oder irgendwas, was auf dem Nachhauseweg liegt und nicht zurückbrüllen kann. Im Fahrradkeller fing ich dann an, aus Wut zu heulen, aber das hielt nicht lange an. Den Rest des Nachmittags hatte ich noch schlechtere Laune als vor meinen Bibliotheksbesuchen, weil ich mich mehr über mich selbst ärgerte als über den Blödmann im immerhin pollenverklebten Kleinwagen. Die Grundidee „ICH HAB ABER RECHT!“ ist im Straßenverkehr so dämlich, dass man sie einfach nicht denken darf. Gleichzeitig ärgert es mich aber, dass ich als Radlerin grundsätzlich die Arschkarte gezogen habe, weil ich eben schwächer bin als die Autos, mit denen ich mir die Straßen teile. Ich habe nämlich nicht das Gefühl, dass dieses Teilen irgendwo angekommen ist. Ich fühle mich als Radlerin fast immer als Störenfried, was ich nicht sein sollte. Aber darüber nachzudenken ist genauso sinnlos wie andere Leute anzubrüllen.
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Immerhin Erdbeeren gehabt, die nach was geschmeckt haben. Hirntot Serien geguckt, keine Lust auf einen Job gehabt, den ich jetzt am Wochenende erledigen muss. Weiterhin schlechte Laune.