Was schön war, Sonntag, 1. Juli 2018 – In der Puppenkiste
Als ich das erste Mal zum Fußball mit nach Augsburg kam, spielte F. den Fremdenführer und wies mal hierhin, mal dorthin, was es da alles gab im Fuggerstädtchen, ich nickte und hatte keine Ahnung, und dann kam irgendwann der Satz: „Und da hinten geht’s zur Puppenkiste.“ Und ich so: „Wie, die Puppenkiste? Die gibt’s wirklich?“
Für mich war die Augsburger Puppenkiste ein Fernsehstudio in Köln, in dem Jim Knopf und Lukas wohnten und dann übers Plastikplanenmeer nach Lummerland fuhren. Aber nein, es gibt wirklich ein Theater in Augsburg, das 1948 eröffnet wurde und wo zum Beispiel der Räuber Hotzenplotz seit 1966 die Kaffeemühle der Großmutter klaut. Und genau das schauten F. und ich uns gestern an.
Wenn ich alleine dagewesen wäre, wäre ich vermutlich am Theater vorbeigelaufen, denn es befindet sich in einem ehemaligen Spitalgebäude – übrigens von Elias Holl, den ich aus dem Studium kannte; den Goldenen Saal im Augsburger Rathaus hatte ich mal in einer Vorlesung gesehen. Eine unscheinbare Tür führt in einen kleinen Vorraum, in dem es eine Garderobe gibt, ein Café, das aus geschätzt zehn Tischen besteht und einer kleinen Merchandisinginsel, wo man neben Shirts, Büchern und Postkarten auch die bekanntesten Marionetten kaufen kann. Von der Puppenkisten-Website habe ich gelernt: Jim und Lukas wohnen wirklich nur im Fernsehen, dieses Stück ist als Bühnenproduktion viel zu aufwendig.
Nebenbei bin ich jetzt schon gespannt darauf, welche Marionette in der nächsten Bundesliga-Saison anstatt eines Wimpels an den Kapitän der Gastmannschaft übergeben wird, die gerade beim FC Augsburg spielt; in der abgelaufenen Saison war es ausgerechnet der Hotzenplotz – natürlich stilecht mit einem grünweißroten Fanschal um den hölzernen Hals.
F. kannte das Theater schon, ich wie gesagt nicht, und ich war unerwartet aufgeregt, als wir in den Gewölbesaal traten und in der dritten Reihe Platz nahmen. F. hatte die Karten schon im letzten September gekauft; die Dinger sind so schnell weg wie Karten für die Bayreuther Festspiele, aber deutlich günstiger. Er hatte auch brav darauf geachtet, möglichst weit vorne zu sitzen, denn, wer hätte es gedacht, die Kiste ist quasi wirklich eine Kiste. Die Bühne ist winzig, und ich habe keine Ahnung, ob man in der letzten, der 20. Reihe, überhaupt noch was sehen kann. Ich war schon gerührt, bevor es überhaupt losging, denn die Flügel der Kiste kannte ich natürlich aus dem Fernsehen und war gespannt, ob sie sich wirklich seitlich öffneten oder einfach nach oben weggezogen wurden.
Sie öffneten sich seitlich, wie es sich gehört und ich verdrückte ein kleines Tränchen, ich Marionettenmemme.
Im ersten Bild singen der Kasperl und der Sepperl der Großmutter ein Geburtstagsständchen. Den Kasperl kenne ich auch aus dem Stadion; er sagt immer das Spielergebnis voraus, meist allerdings falsch. Deswegen war ich sehr über die Theaterstimme des Kasperl irritiert, denn sie war anders. Das lag daran, dass wir gestern ernsthaft noch die Sprechstimmenaufnahmen von 1966 hörten – so wurde der Zauberer Petrosilius Zwackelmann (Petersilius Wackelzahn) vom Puppenkistengründer Walter Oehmichen eingesprochen, der seit 1977 tot ist. Aber warum auch Dinge ändern, die anscheinend seit 50 Jahren funktionieren? Ich hatte erwartet, dass die ganzen Kinderscharen um uns herum, die mit iPads und Laptops groß werden, nicht mehr von Holzpuppen an deutlich sichtbaren Schnüren fasziniert werden können, aber damit lag ich tollerweise total falsch. Sobald sich der rote Vorhang hinter den Kistenflügeln öffnete, war Ruhe im Saal (bis auf die stets blubbernden Kleinstkinder, aber das muss so) und die Kinder lachten über die gut platzierten Witze genau wie ich, erfreuten sich genau wie ich daran, dass Zwackelmann von einem Besen verkloppt wird oder dass ein Schnupftabaksack plötzlich Beine hat und staunten genau wie ich lautstark über ein besonders dramatisch ausgeleuchtetes Bühnenbild (der Unkenpfuhl! Huuuuh! Ich will die Unke als Marionette!).
Zwischen den einzelnen Bildern ging der Vorhang immer kurz zu – und sofort begannen die Gespräche um uns herum. „Mama, wieso hat der Kasperl …“ „Willst du dem Papa erzählen, was der Räuber gemacht hat?“ und ähnlich. Ich ahne, dass die Umbaupausen auch dazu da sind, damit man kleinen Kindern notfalls noch schnell erklären kann, was da gerade passiert ist. Das schien zu funktionieren, die Gespräche brachen immer sofort ab, sobald der Vorhang sich wieder öffnete. Das Publikum war übrigens geschätzt nur zur Hälfte im Kindesalter, wenn überhaupt. In der ersten Reihe saß zum Beispiel ein kleiner Junge, dem sich gleich vier gut gelaunte Erwachsene als Begleitperson angedient hatten.
(Deko auf dem Merchandisingstand.)
Was mich überraschte: Die Marionetten waren deutlich kleiner als ich dachte. Aber klar, wenn man als Puppenspieler*in eine 80-Zentimeter-Puppe bewegen muss, ist das vermutlich irre anstrengend und vor allem schwer zu koordinieren. Was ich auch lustig fand und mich an meine erste Ballettaufführung denken ließ: dass man das hölzerne Geklapper der Füße auf dem Bühnenboden hört. Daran musste ich mich erst gewöhnen, wie auch an das für meine Ohren immer noch anstrengende Augsburger Schwäbisch. Mit Bairisch komme ich inzwischen halbwegs klar, aber in Augsburg wird eher geschwäbelt. Und dann auch noch, wie F. es nannte, eher maulfaul. Vieles wird verwischt oder verschluckt, weswegen ich mich in der Pause beschwerte, dass das total fies gegenüber uns armen Norddeutschen ist. F. nur so: „Dann baut’s eich halt selba a Puppakischt.“ Werde den Mann jetzt ins Ohnsorg-Theater schleppen müssen. Oder in irgendwas Plattdeutsches. Im Programmheft steht übrigens eine Ãœbersetzung für viele Ausdrücke, aber davon hat man leider während der Vorstellung nichts. Gerade den Sepperl, der auch noch betont doof sprach, habe ich kaum verstanden. Außer bei einem seiner Lieder, aber der Reim war auch idioten- bzw. norddeutschensicher, der ging ungefähr so: „Ich bin das arme Sepperle, ich bin ein kleines Depperle.“ Aus dem Programmheft übernehmen werde ich aber ab sofort den Ausdruck „Simpelfranzn“ für „Stirnhaare mit waagrechter Schnittlinie.“
Die Vorstellung dauerte knapp anderthalb Stunden, wobei es nach knapp einer Stunde eine Pause gab. Danach wurde der Zauberer verprügelt, aus der wirklich tollen Unke wurde eine total langweilige Fee, der Zauberer fiel in die Hölle, der Hotzenplotz wurde aus einem Gimpel wieder zu einem Mensch verwandelt und zum Schluss kriegten alle, auch der Wachtmeister Dimpflmoser, von der Großmutter einen anständigen Zwetschgendatschi. Der Vorhang fiel und die Klappe schloss sich blitzschnell. Keine Verbeugung der Marionetten oder sogar der Spieler*innen. Letzteres findet wohl bei den Vorstellungen für Erwachsene statt, aber bei den Stücken für Kinder ist das Ende sehr kurz und schmerzlos. Ich fand das ein bisschen schade, aber andererseits: Wenn man als Kind noch nicht die Theatererfahrung gemacht hat, dass sich am Ende alle verbeugen, dann muss das ja auch nicht sein.
Leider war die Kasperleampel in der Nähe des Theaters gestern nicht eingeschaltet, die hätte ich auch gerne noch gesehen. So trösteten wir uns mit Guinness und Kilkenny und eher mäßigen Pommes in einem Biergarten um die Ecke, sahen das Elfmeterschießen von Spanien und Russland und fuhren gemütlich (g’miatlich) mit dem Regionalzug wieder nach München.
Das war sehr ungewohnt, mal ohne Stadionklamotten nach Augsburg zu fahren, aber wirklich schön. Die Puppenkiste. Es gibt sie wirklich.