Tagebuch, Montag, 3. September 2018 – Altes raus, Neues rein und Hähnchenteile frittieren

Den Vormittag verbrachte ich mit Orgakram: Steuern erledigen, Akquise machen, weiter Zeug für den Umzug vorbereiten. Ich wartete immer noch auf ein Briefinggespräch und scharrte daher etwas mit den Hufen. Außerdem fragte ich bei einem neuen Kunden aus der vorletzten Woche nach, ob ich abrechnen dürfe und wie die Agentur mit mir zufrieden gewesen war. Normalerweise frage ich sowas nicht, weil ich meiner Meinung nach immer einen guten Job abliefere, aber hier war ich leider sehr sicher, nicht ganz so der Bringer gewesen zu sein.

Der Auftrag, was ich aber erst beim Briefinggespräch erfuhr, waren Anzeigen, was überhaupt nicht mein Ding ist. Beim ersten Telefonkontakt durch den Kunden hatte ich gar nicht nachgefragt, um was genau es ging, ich war einfach davon ausgegangen, dass ich auf einen Langtext gebrieft werden würde, denn dafür werde ich seit Jahren fast ausschließlich gebucht. Der Geschäftsführer der Agentur hatte mich über LinkedIn gefunden, was, glaube ich, das erste Mal war, dass ich über Portale wie Xing oder eben LinkedIn einen Job bekam. Ich erwähnte schon mal im Blog, dass München im August quasi leer ist, und so ging es auch dieser Agentur, die eigentlich einen festen Freienpool hat, aber jetzt gerade waren alle im Urlaub, die Festangestellten auch, und der Kunde, wie Kunden manchmal so sind, wollte quasi übermorgen eine neue Präsentation. Also wurde ich für zwei Tage gebucht, um Anzeigenheadlines auf bestehende Motive zu basteln sowie neue Konzepte zu erstellen. Zweiteres fiel mir deutlich leichter; bei Anzeigenheadlines merke ich einfach immer wieder, dass ich dafür ewig Zeit brauche. Ich schreibe eher eine zwanzigseitige Broschüre als zwanzig gute Anzeigenheadlines. Ich denke viel besser in Langtexten, ich nehme mir gerne Zeit für Argumente, baue Texte strukturell auf; die schnell hingeworfene Pointe ist nicht so meins. Es dauert bei mir erfahrungsgemäß ein bis zwei Tage, bis ich mein Hirn umprogrammiert habe auf „Kurz und knackig“ statt „Lang und sinnstiftend“. Diese Zeit hatte ich bei diesem Job leider nicht. Die letzten Lines, die ich ablieferte, bevor meine vereinbarte Zeit rum war, waren dann auch die besten, aber davor kam halt 12 Stunden lang Mittelmaß bis Müll.

Der Geschäftsführer gab ein etwas freundlicher formuliertes Feedback, aber nein, zufrieden waren sie leider nicht gewesen. Ich auch nicht, was ich nicht nur für diesen Job schade fand, sondern auch für zukünftige, die jetzt wohl nicht mehr kommen werden. Die Agentur macht eher B2B, was ich in letzter Zeit sehr gerne bearbeite, aber ich ahne, dass ich keine Chance mehr bekommen werde, ihnen zu zeigen, dass ich auf der Langstrecke deutlich bessere Texte abliefere.

Dafür war der zweite Kundenkontakt am Tag positiver und ich startete motiviert in einen neuen Job. Trotzdem nagte das Bewusstsein, einen miesen Job abgeliefert zu haben, doch mehr an mir als ich dachte. Ich musste mir ab und zu selbst erzählen, was ich alles schon geleistet hatte in meinem Berufsleben, aber alleine, dass ich das musste, störte meine Konzentration doch sehr. Ich hinterfragte plötzlich selbst meine geliebte Longcopy, machte daher früher Feierabend als geplant und verschob den weiteren Text auf heute, wo ich hoffentlich von weniger Selbstzweifel zernagt am Rechner sitzen kann.

Zum Abendessen gab ich den Gelüsten nach, die durch drei Staffeln Breaking Bad ausgelöst wurden und frittierte Hähnchenteile, die zuvor stundenlang in Buttermilch mariniert hatten. #LosPollosHermanos

F. leistete mir Gesellschaft, wir diskutierten, wie gefühlt dauernd und unaufhörlich, die politische Situation und waren ein bisschen mutlos. Dazu hat Christian netterweise ein bisschen was aufgeschrieben und verweist auf Just a thought, die ebenfalls ein paar Vorschläge für die Zivilgesellschaft hat.

(Edit: Frau Petrolgrau hat auch noch ein paar Ideen.)

Eine Welle der Nostalgie. Die akademische Mittelschicht und die illiberale Gesellschaft

Die Soziologiekolumne des Merkur beschäftigt sich, wie passend, mit der Bewegung nach rechts und erläutert die Zusammenhänge von aufstrebendem, teilweise akademischem Bürgertum, das sich ewig selbst optimiert und bewusst nach unten abgrenzen will sowie der Sehnsucht nach der angeblich stabilen Vergangenheit.

„Auch die Rechte adressiert, ähnlich wie die Linke, soziale Spaltungen, allerdings nicht unter dem Vorzeichen des Ökonomischen, sondern in Gestalt kollektiver Identitäts- und Grenzmarkierungen. Dabei werden unterschiedliche soziale Konfliktlinien – etwa die zwischen Ost- und Westdeutschen, zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern, zwischen Kosmopoliten auf der einen Seite und den Verfechtern von Heimat, Region und traditionellen Werten auf der anderen Seite, zwischen europafreundlichen und europakritischen Bürgern – unter dem Dach der politischen Rechten gebündelt. In diesen Konflikten geht es nicht allein um bloße Identitäts- oder Kulturfragen oder gar primär um die Abwehr der »Islamisierung des Abendlandes«. Vielmehr steht die Verteidigung von Privilegien, von Etabliertenvorrechten, auf dem Spiel. Gestritten wird um gesellschaftliche Ränge und Einflussbereiche. […]

Einige Aspekte dieses Mentalitätswandels versteht man am besten, wenn man sie als Folge der Umkehrung der durch »1968« markierten Entwicklungstrends begreift. War 1968 der Kulminationspunkt gesellschaftlicher Öffnungsbewegungen, eines nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Trends, der immer mehr Menschen zu sozialem Aufstieg und zur Teilhabe an öffentlichen Diskursen bringt und politisiert, der durch Pluralisierungsprozesse, die reflexive Verflüssigung von gesellschaftlichen Institutionen, die Entdeckung der Gesellschaft als eines politischen Begriffs und die utopische Annahme der Gestaltbarkeit von Gesellschaft geprägt war, so ist 2013 als das Gründungsjahr der AfD der Kulminationspunkt einer umgekehrten Entwicklung, nämlich eines mit dem Fall der Mauer einsetzenden Trends, der durch soziale Schließungsbewegungen und Abstiegsdynamiken und durch die neuerliche Verhärtung von Strukturen geprägt ist: Eliten und herrschende Gruppen schotten sich ab, und anstelle von Pluralisierungstendenzen finden sich verschärfte Anpassungs-, Vereinheitlichungs- und Konformitätszwänge. […]

Der Soziologe Zygmunt Bauman argumentiert, dass die Gegenwart an einer »globalen Nostalgie-Epidemie« leide, einer verzweifelten Sehnsucht nach Kontinuität und Stabilität in einer fragmentierten Welt. Diese epidemische Nostalgie fungiere als Abwehrmechanismus beschleunigter Lebensrhythmen und historischer Umwälzungen und bestehe im Wesentlichen aus dem Versprechen, jene ideale Heimat aus der Vergangenheit wiederherzustellen. Retrotopia , so der Titel seines Buches, sei ein durchgängiges Merkmal einer verunsicherten und durch Ungewissheiten geprägten Gegenwart.

Statt in eine ungewisse Zukunft investiere man alle Hoffnungen in die Restauration eines halbvergessenen Gestern, an dem man vor allem dessen vermeintliche Stabilität und Vertrauenswürdigkeit schätzenswert findet. […]

Kaum verwunderlich also, dass die neuen Protestparteien sich weniger in Form einer frontalen Herrschaftskritik äußern, sondern sich vorzugsweise an den Emblemen der kulturellen Überlegenheit der kosmopolitisch-akademischen Mittel- und Oberschicht – wie etwa Multikulti, Latte Macchiato oder Gendermainstreaming – abarbeiten. Möglicherweise hat sich das postindustrielle Bürgertum allzu selbstgefällig in seiner Hegemonie eingerichtet und könnte, zumindest wenn es nach der AfD-Wählerschaft ginge, zukünftig eine böse Überraschung erleben.“