Tagebuch Dienstag, 16. Oktober 2018 – Schreibtischtag

Pünktlich um 7 aufgestanden, geduscht (die Farbdusche! Immer wieder ein Kracher!), auf dem Lieblingsplatz (Sofa am Balkonfenster) den üblichen Morgencappuccino getrunken (mieser Milchschaum), am Schreibtisch gearbeitet, in der Mittagspause einen Burger gegessen, weil arg hungrig, FAZ gelesen (musste noch ein bisschen vom Montag nachholen), den Nachmittag weiter am Schreibtisch verbracht, weswegen ich auch die zweite freiwillige Vorlesung im Semester ausfallen lassen musste (Geld geht jetzt wieder vor Bildung), abends nur noch ein Salamibrot, viel Wasser getrunken, eingeschlafen, sobald ich im Bett lag.

In der FAZ stand am Montag ein langer Artikel, der leider nur gegen Geld im Archiv abrufbar ist. Montags gönnt sich der Laden immer eine ganze Seite für Gastbeiträge, die gerne historische Themen behandeln, weswegen ich mich immer auf die Montagsausgabe freue. Dieses Mal ging es um Veränderungen in der Wirtschaft in der Zeit um 1968, ich zitiere mal den Untertitel des Artikels „Die Ressource Mensch“ von Bernhard Dietz: „Für die Unternehmen war ‚1968‘ eine mediale und politische Provokation. Zunächst reagierten sie mit kämpferischer Rhetorik nach außen, zunehmend aber auch mit Dialogbereitschaft, professionalisierter Öffentlichkeitsarbeit und schließlich mit Absorption von Kritik und Reformbereitschaft.“

Der Artikel beginnt mit der Feststellung, dass „1968“ gerne als Metapher für gesellschaftliche Umbrüche genutzt wird, die sich „im Bereich des Politischen, der Bildung oder in der Sphäre des Privaten“ ereignet haben, während aber die „Wirtschafts- und Arbeitswelt“ kaum beachtet werde. „Wenn aber ‚1968‘ im Kern eine Revolte gegen traditionelle Autorität und Hierarchie war und es letzlich darum ging, individuelle Freiheitsspielräume zu erkämpfen und neue Lebensstile zu erproben, dann liegt es auf der Hand, auch nach den Auswirkungen der Revolte auf die Unternehmen oder – allgemeiner gesagt – auf die westdeutsche Wirtschaft zu fragen. Allgemein gefragt: Mit welchen Strategien gelang es dem westdeutschen Kapitalismus, die Akzeptanz des Ordnungsmodells der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘ aufrechtzuerhalten?“

Dietz beschreibt den Quasi-Neubeginn der westdeutschen Wirtschaft nach Kriegsende, deren Entwicklung sich mit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung deckt – kurze Auseinandersetzung mit den Jahren 1933–45, dann gefälliges Ignorieren bis Verdrängen: „Mussten sich die Unternehmer in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg noch den Vorwurf gefallen lassen, Handlanger des NS-Systems gewesen zu zu sein, waren sie zu Beginn der 1950er Jahre schon bald unersetzbare Garanten für Prosperität und Stabilität. Geschickt inszenierten sie sich als ‚Kapitäne des Wirtschaftswunders‘, als ‚geborene Unternehmer‘, die dank harter Arbeit und einer gehörigen Spur Genialität den Wiederaufbau nach dem Kreig erfolgreich gesteuert hatten.“

„Zum Ende der 1960er Jahre wichen aber Selbstgewissheit und Zuversicht ersten Zweifeln und schießlich einer wachsenden Unsicherheit. Die Wirtschaftskrise 1966/67 hatte gezeigt, dass das kontinuierliche und ungebremste Wachstum vorbei war.“ Gleichzeitig änderten sich Öffentlichkeit und Berichterstattung über Wirtschaftsthemen. Dietz benennt die Fernsehsendungen Report und Panorama sowie Günter Wallraffs „Industriereportagen“, die 1966 erstmals erschienen. Ab den 1970er Jahren kritisierten auch Wirtschaftsmagazine wie Capital oder das Manager Magazin autoritäre Führungsstile und publizierten „Missmanagement-Geschichten“. Auch die Politik veränderte sich: „‚Wirtschaftsdemokratie‘ war seit dem Antritt der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt im September 1969 offizielles Regierungsprogramm.“

Was mich überraschte: „Die Auseinandersetzung [der Wirtschaft] mit den Kapitalimuskritikern begann auf dem Feld der politischen Sprache. Der theorielastigen Argumentation der Studenten fühlten sich viele Wirtschaftsführer unterlegen.“ Woraufhin das Deutsche Industrie-Institut (seit 1973 Institut der deutschen Wirtschaft) inhaltliche und rhetorische Schulungen begann, damit die alten Kapitäne den Jungen ihren Mao um die Ohren hauen konnten. „Kurse wie ‚Marxismus für Manager‘ befriedigten ein zu Beginn der 1970er Jahre sprunghaft gestiegenes Bildungsbedürfnis in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft.“

Seit den 1970er Jahren änderte sich aber auch der Führungsstil vieler Unternehmen, das mittlere Management bekam mehr Bedeutung, „verhaltensökonomische und motivationspsychologische Ansätze“ hatten Konjunktur. Anders ausgedrückt: Es sollten beim Arbeitnehmer ständig neue Bedürfnisse geweckt werden, damit dieser sich entfalten könne – im für das Unternehmen produktiven Sinn natürlich. Dietz zitert das Buch „Führungspsychologie für Vorgesetzte“ von 1973: „Dabei handelt es sich keineswegs um Zwang oder Manipulation, sondern darum, zu erreichen, dass der Mitarbeiter in seiner Aufgabe aufgeht und sich mit ihr identifiziert.“

Die Frage der Identifikation mit dem Arbeitgeber ist für mich eine sehr spannende, denn genau das werfe ich gerade uns Marketinghanseln gerne vor: Die Agentur stellt hübsche Obstteller und eine teure Espressomaschine auf, veranstaltet üppige Weihnachtsfeiern und wir duzen uns alle auch mit den Chefs, aber dafür wird insgeheim erwartet, 60 Stunden statt der bezahlten 40 zu arbeiten, weil wir ja alle dicke Freunde sind. Nee, sind wir nicht, und deswegen mache ich um 18 Uhr Feierabend. Dietz: „Wer kooperative Führung und ‚Selbsterfüllung‘ als höchstes Ziel der eigenen Management- und Personalpolitik anbieten konnte, brauchte den Vorwurf der ‚Entfremdung‘ der Arbeit [ihr habt alle Marx erkannt, gell?] nicht zu fürchten. Entsprechend ließ sich so auch gegen die Notwendigkeit von gewerkschaftlicher Organisation auf betrieblicher Ebene argumentieren. Gewerkschaften waren in dieser Perspektive dann nur für überbetriebliche Belange in der Tarifpolitik und als Sozialpartner relevant. In Zeiten von immer weiter gehenden Mitbestimmungsforderungen war dies für die Unternehmen eine interessante Perspektive.“

Erst in den 1980er Jahren änderte sich laut Dietz wirklich etwas, die 35-Stunden-Woche kam, genau wie „flexible Lösungen zur Arbeitszeit“, die als „personalpolitische Antwort auf die Bedürfnisse zu mehr Individualitätsentfaltung und Autonomie in der Arbeit“ genutzt wurden. Und damit schließt der Artikel, dessen Schluss ich euch mal komplett abtippe, weil er eine Frage beantwortet, die ich mir beim Lesen auch gestellt habe, Stichwort Selbstausbeutung, Hobby als Beruf und Instagram-Influencer:

„Haben also die 1968er die autoritären Verhältnisse in den deutschen Unternehmen geschleift? Und haben sie darüber hinaus mit ihren Forderungen nach Entfaltung des Individuums und nach Selbstverwirklichung langfristig sogar das sozialkulturelle Fundament für den Neoliberalismus geschaffen? Sine sie gar die unfreiwilligen Ahnherren der zwanzig Jahre alten Influencerin, die heute als ‚unternehmerisches Selbst‘ im Zeichen der Selbstentfaltung schon ihr morgendliches Frühstück über die sozialen Medien vermarktet? Solche in der Soziologie populären Thesen sind anregend, aber entschieden einzuschränken. Empirisch belegbar ist: Die Kapitalismuskritik der 1968er forderte die Unternehmen heraus und sorgte für umfangreiche und vielfältige Investitionen vor allem im Bereich der Führungskräfteausbildung. Aber erst im Zusammenspiel mit medienhistorischen Veränderungen, mit politischem Reformdruck zu mehr ‚Wirtschaftsdemokratie‘ und mit dem Generationenkonflikt in der westdeutschen Wirtschaft kam es zu einem graduellen Verlust des Vertrauens in den westdeutschen Kapitalismus. Die alten Überzeugungs- und Legitimationsstrategien (Elite, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder) kamen um 1970 in eine Krise, und es bedurfte neuer Leitbilder, die um kooperative Führung, gesellschaftliche Verantwortung und Kreativität kreisten.

Dass aber um 1970 autoritäre Führungsstile oder das ‚Genie‘ des Unternehmers generell als nicht mehr ausreichend betrachtet wruden, hatte vor allem ökonomische Gründe: zum einen den seit den frühen 1960er Jahren voranschreitenden Prozess der Professionalisierung von Unternehmensführung, durch den Autorität eingehegt und formalisiert wurde; zum anderen den mit der Wirtschaftskrise von 1966/67 einsetzenden Paradigmenwechsel in der deutschen Industrie. In einer angebotsorientierten Konsumwirtschaft wurde Kreativität zur überlebenswichtigen Ressource, um in einem gesättigten Markt weiter Produkte zu verkaufen.

Daher zielten die neuen Managementtechniken darauf, die bisherigen als starr empfundenen – also kreativitätshemmenden – Ordnungen und Hierarchien aufzubrechen und neue unkonventionelle, motivierende und produktive Situationen zu schaffen. Der um 1970 geborene ‚neue Geist des Kapitalismus‘, dem wir die moderne Arbeitswelt mit ihren flachen Hierarchien, Kooperationen, Teams, Projekten und Netzwerken verdanken, hatte also nicht einen, sondern viele Väter [und Mütter, ähem]. Das ‚1968‘ der Manager gehört zweifelsfrei dazu.“

Das Thema finde ich spannend, ich werde mir mal den von Dietz mitherausgegebenen Tagungsband Wertewandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt (2016) ausleihen und weiterlesen. Wenn ihr noch weitere Buchtipps zu Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik für mich habt, gerne her damit.

(Alle Zitate: Dietz, Bernhard: „Die Ressource Mensch“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2018, S. 6.)