Tagebuch Freitag, 16. November 2018 – Lesetag
Gestern war ein bisschen Urlaub-vom-Urlaub-Tag. Seit unserer Rückkehr hatte ich lauter Kleinkram zu erledigen, aber gestern war mal nichts. Niemand wollte was, ich wollte auch nichts, also las ich viel. Zum Beispiel den Newsletter von Austin Kleon, der mich auf einen alten Artikel (2014) von Rob Walker aufmerksam machte: How To Pay Attention: 20 Ways To Win The War Against Seeing.
Walker beschreibt eine Aufgabe, die er seinen Design-Student*innen stellte: Sie sollten in der Woche bis zur nächsten Sitzung üben, aufmerksam zu sein. Das war’s. Teil der Übung war zu sehen, wie genau nun Menschen versuchen, aufmerksam zu sein bzw. mit welchen Methoden sie Dinge fanden, die man normalerweise übersieht. Der Artikel fasst 20 Tipps zusammen, die ich alle spannend fand für einen neuen Blickwinkel für die eigene Umgebung oder als Ausgangspunkt für einen neuen Blogeintrag, ein Kunstprojekt, gegen die Langeweile auf dem Weg zur Arbeit usw.
Ein paar Tipps darunter bezogen sich auf Kunstbetrachtung. Der Slow Art Day (kannte ich auch noch nicht) findet jedes Jahr im April statt: Dabei trifft man sich in Museen, schaut sich fünf Werke für jeweils zehn Minuten an und spricht danach darüber. Es müssen anscheinend nicht die gleichen Werke sein, es geht, glaube ich, gar nicht darum zu vergleichen, wer jetzt was gesehen hat, sondern es geht darum, sich aufmerksam einem Werk zu widmen und wahrzunehmen, was man sieht, was man dabei vielleicht fühlt, welche Assoziationen man hat.
So ähnlich ist übrigens unser Podcast entstanden: Wir wollten alle den Cremaster-Cycle von Matthew Barney sehen, der 2014 netterweise umsonst an drei Abenden in der Hochschule für Film und Fernsehen gezeigt wurde. Nachdem alle fünf Filme durch waren, wollten wir natürlich dringend darüber sprechen, wobei wir spaßeshalber ein Smartphone mitlaufen ließen. Als wir uns unsere Diskussion – die alleine durch das offene Mikro etwas strukturierter und wohlformulierter ablief als die üblichen Klönabende – noch mal anhörten, fanden wir das gut genug, es auch anderen vorspielen zu wollen, und schon hatten wir einen Kulturpodcast. Aber auch ohne einen Podcast kann man sich mal im Museum verabreden und danach bewusst darüber reden. Wer das lieber alleine macht, kann sich nach fünf Werken ins Museumscafé setzen und aufschreiben, was er oder sie gesehen und gefühlt hat. (Zack, Blogeintrag fertig! Merke ich mir für Tage, an denen ich auf nichts Lust habe.)
Eine weitere Art des Kunstguckens ist das richtig lange Kunstgucken. Ich zitiere aus dem Artikel:
„Educator Jennifer L. Roberts has described an assignment she’s used in art history classes as making students regard a single work for “a painfully long time.” This seems to mean three hours, which does sound like a challenge (…). The task — “noting down his or her evolving observations as well as the questions and speculations that arise from those observations” — is meant to be the first step in a research process. But Roberts argues, persuasively, that it’s a highly useful step. Students resist, but eventually find that looking really slowly forces them to notice things they had initially missed. “What this exercise shows students,” Roberts writes, “is that just because you have looked at something doesn’t mean that you have seen it.”
Ich habe noch nie so lange vor einem Werk gesessen, aber es erschließt sich mir sofort, dass man immer mehr sieht, je länger man hinguckt. Das merke ich bei jedem Werk, über das ich bisher eine Hausarbeit geschrieben habe – man denkt immer, man hat es gesehen, aber es verändert sich bei jedem erneuten Draufschauen, eröffnet neue Perspektiven oder zwingt zu neuen Fragestellungen. Das merkte ich besonders bei meiner Masterarbeit, bei der sich meine ursprüngliche Forschungsfrage nicht mehr halten ließ, je länger ich auf Lüpertz guckte – aber gerade dieses Mehrfachschauen ließ mich dann andere Dinge fragen.
Was mich zur dritten Art des Sehens führt, die auch im Artikel beschrieben wird: mehrfach gucken. Walker verlinkt einen Artikel aus der New York Times, in dem der Autor Randy Kennedy beschreibt, dass er sich nun schon seit Jahren den selben Caravaggio im Met anschaut. Schon seinen Weg zum Bild fand ich lesenswert (vermutlich weil ich genau die gleichen Bilder mag oder nicht):
„Curators have long lamented how little time museum patrons spend in front of works; a 2001 study by the Met found the median viewing time to be only 17 seconds. And so I would love to say that I formed a conviction to make the Caravaggio my pilgrimage site in order to nobly embody the pre-Internet virtues of long looking, of allowing meaning to accrue over time. The truth is that my job as an art reporter takes me to the Met with great (and pleasing) regularity, and every time I make my way through the European galleries, I seem to end up passing the painting and stopping short in front of its pile of shadows.
Eventually I came to remember exactly where the painting was, and after an interview, before heading to the subway, I got into the habit of making a beeline for it, almost sheepishly, like somebody at a party snubbing all the guests except the one he really wants to talk to. I’d shoot painfully past Hans Memling, one of my favorites, past Bosch and past Bruegel’s stout harvesters, eternally eating their lunchtime porridge. I’d hang a left at van Dyck’s foppish blond duke, ignore Rubens altogether, and by the time I got to Guercino’s Samson and his gloriously torqued back, I’d know I was almost there.“
Der Bruegel hängt da übrigens immer noch, der ist leider gerade nicht in Wien bei seinen Kumpels vom Jahreszeiten-Zyklus, nur so nebenbei. Kennedy verweist auch auf das wunderbare Buch Alte Meister von Thomas Bernard, das ich euch ebenfalls empfehlen kann.
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Ich begann den Artikel mit dem Hinweis auf Austin Kleons Newsletter. Daraus möchte ich noch schnell einen Eintrag vom Verfasser selbst zitieren: We are verbs, not nouns. Er beschreibt ein Interview mit Stephen Fry, in dem dieser die folgenden schlauen Sätze sagte:
„Oscar Wilde said that if you know what you want to be, then you inevitably become it – that is your punishment, but if you never know, then you can be anything. There is a truth to that. We are not nouns, we are verbs. I am not a thing – an actor, a writer – I am a person who does things – I write, I act – and I never know what I am going to do next. I think you can be imprisoned if you think of yourself as a noun.“
Das hat mich seltsam berührt, weil ich mich sofort über mein Schreiben definieren konnte, aber auch sofort wusste, wie oft sich dieses Schreiben geändert hat. Mir ist erst Mitte meiner Dreißiger aufgefallen, dass ich schon immer geschrieben habe. Ich habe als Kind bereits Tagebuch geführt, ohne es so zu nennen, ich habe halt immer irgendwo irgendwas hingeschrieben, bis ich mit 12 mein erstes Büchlein bekam, in das ich schrieb. Eine meiner deutlichsten Kindheitserinnerungen ist eine Szene, wie ich mit dem Fahrrad von Oma zurück nach Hause fahre und dabei über die Blumen am Weg nachdenke. Ich kann mich sehr genau daran erinnern, wie ich über sie nachdachte, weil ich wusste, dass ich genau diese Gedanken danach aufschreiben wollte – was ich auch tat.
Ich habe mir den Eintrag gerade durchgelesen, weil ich aus ihm zitieren wollte, aber den verschweige ich der Nachwelt besser. Ähem. Immerhin kommt direkt nach dem arg simplen Vergleich von schönen Blumen und schlichten Menschen noch eine knallharte Analyse zu Ingeborg Bachmanns Gedicht Herbstmanöver: „Es ist einfach irre!“
Mir ist beim Tagebuchlesen eben auch bewusst aufgefallen, dass ich recht früh damit begonnen habe, mir über Dinge klar zu werden, indem ich sie aufschreibe – so wie ich das heute noch mache. Ich erwähnte das im Blog vermutlich schon mal: Ich habe Schreiben nie als ein Talent oder sogar als eine Grundlage für einen Beruf gesehen, einfach weil ich es schon immer gemacht habe. Ich war also schon immer ein Verb – „schreibend“ statt „Schriftstellerin“, als was ich mich nie bezeichnet habe – , bevor ich eine Journalistin wurde, eine Bloggerin, eine Werbetexterin, eine Buchautorin, eine Kunsthistorikerin (wenigstens für zwei Kataloge).