Tagebuch Sonntag, 16. Dezember 2018 – Zirbelzauber
Wie gestern schon erwähnt, war ich nach dem kleinen Asthmaanfall körperlich etwas angeschlagen. Die Option 1 war nun, einfach den ganzen Tag auf dem Sofa zu verbringen – geht immer. Option 2 war frische Luft, eventuell etwas glühwein- und bratwurstduftschwer. Denn eigentlich wollten F. und ich noch dringend auf den Augschburger Christkindlesmarkt (ich muss jedesmal googeln, ob der sich wirklich so schreibt, Süddeutschland, ey). Der einzige Ausweichtermin wäre der nächste Sonntag, wo wir eh in der Stadt sind für das letzte Heimspiel des FCA in diesem Jahr, aber mit Fußballklamotten renne ich ungern durch die Gegend, und nach drei Glühwein müsste ich auch dauernd aufs Stadionklo – das übrigens immer hervorragend sauber ist, mir geht’s eher um das ewige Trepperauf, Trepperunter und das Anstehen wie auf allen Damenklos dieser Welt. In diesem Zusammenhang: Alle männlichen Wildpinkler, die ernsthaft in Sichtweite des Stadions noch mal eben in die Büsche gehen – was stimmt bei eurer Kinderstube nicht, ihr Deppen?
Jetzt rege ich mich schon wieder auf, dabei wollte ich doch schreiben, dass wir uns spontan gestern zu einem Besuch des Weihnachtsmarkts entschieden. Dieses Mal war ich für den Kauf des Bayerntickets zuständig, das sonst immer F. besorgt. Am Automaten sprach mich ein Tourist an, der zum Marienplatz wollte; wir diskutierten Ticketoptionen, ich wies ihm den Weg durch das Auswahlmenü am Automaten, dann hatte der Mann seinen Fahrausweis und wollte nun wissen, wie er zu S-Bahn käme – woraufhin ich ernsthaft passen musste, weil ich am Hauptbahnhof noch nie in die S-Bahn, sondern immer nur in die U-Bahn gestiegen bin. Natürlich habe ich den Bahnhof schon mal als Umstiegsstation für die S-Bahn benutzt, aber eben noch nie als Startpunkt. Daher konnte ich dem gut gelaunten Herrn nur die Anweisung „Follow the green S signs“ geben und ihn zum ersten Hinweisschild schicken. Ich bin mir sicher, der Mann findet das. Andererseits meinte er, er wäre gerade vom Flughafen mit der S-Bahn gekommen, die eigentlich bis zum Marienplatz fährt. Hm.
Die Zugfahrt nach Augschburg verlief ereignislos, wenn auch etwas weniger plauderig als sonst, denn mein Begleiter war hangry; er hatte noch nicht gefrühstückt und ein hungriger F. ist ein nöliger F. Deswegen ging der erste Gang dann auch schnurstracks zum Bosnastand. Was eine Bosna ist, habe ich erst hier im Süden gelernt und fühlte mich in Wien am Würstlstand total wissend. Mir reicht weiterhin eine Bratwurst, aber auf dem Christkindlesmarkt muss es eben eine Bosna sein. Hier auch noch mal ein geistiger Schlenker: Käsekrainer, geh sterben. Du bist eklig.
Mit einem deutlich besser gelaunten F. ging es dann zu Horscht an den Weinpunschstand. F. schwört auf diesen einen Stand, ich habe in Augsburg noch keinen anderen Glühwein getrunken, wobei Horscht auf der Website des Marktes seine Getränke auch als Bier- und Weinpunsch anpreist. Meine drug of choice ist dort der Zirbelzauber (das gelbe Gläschen), über dessen Namen ich immer lästern muss, bevor ich ihn dann genussvoll wegschlürfe. Die Augschburger und ihre Zirbelnuss sind für mich immer ein Quell großen Grinsens. Ich höre schon wieder F.: „DAS IST EINE ALTE RÖMISCHE DEKORATIONSFORM, DAS IST ANTIK! WAS HAT HANNOVER AUSSER DEM BLÖDEN PFERD DENN SO, NA, NA?“ – „WIR STELLEN DAS DING IMMERHIN NICHT ACHT METER HOCH AUFS RATHAUS!“
Ein weiteres Argument für den Besuch beim Horscht ist der unverstellte Blick aufs eben schon brüllend angesprochene Rathaus (mit der Zirbelnuss oben drauf). Man steht nicht mitten in den ganzen Buden und den vielen Leuten, sondern ein winziges bisschen abseits in der Steingasse, aber kann dafür über die ganzen Lichterketten weggucken und das Gebäude bestaunen. Das mache ich jedesmal, wenn ich da bin, denn ich komme einfach nicht darüber weg, wie irrwitzig viel Geld Augsburg in der Renaissance gehabt haben muss, um sich diesen Trumm in die Stadt zu stellen (*hust* Fugger *hust*). Das Gebäude war bis 1917, laut Wikipedia, das höchste Gebäude in Deutschland, und es ist auch heute noch, wo wir doofe Bürotürme gewöhnt sind, äußerst beeindruckend. Klar kenne ich genug mittelalterliche Rathäuser – hier bitte mal kurz die Geschichte dieses Bautyps nachlesen – und die sind auch schon nicht winzig, hallo Lübeck, aber keins steht so selbstbewusst, so frei und so aufsehenerregend präsent in der Gegend rum. Ich komme da nie drüber hinweg und staune jedesmal, wenn ich es wiedersehe, obwohl ich es nun wirklich schon oft gesehen habe. Hier der weinpunschselige Blick von Horschtens Büdchen, wo es nicht ganz so überwältigend aussieht, aber dafür habe ich die Alphornbläser im Bild gehabt. Die kenne ich von norddeutschen Weihnachtsmärkten ja auch nicht so unbedingt. Ein Gruß an alle dörflichen Posaunenchöre!
Gegen 18 Uhr waren wir wieder in München, beide irgendwie erledigter als gedacht, weswegen sich unsere Wege trennten und jeder für sich den Abend verbrachte. Ich besiegte mein Spiegelei-Trauma und zauberte mir ein wunderbar festes Eiweiß mit perfekt flüssigem Dotter, das ich sogar heile aus der Pfanne bekam und war sehr zufrieden mit dem Tag.