Tagebuch Mittwoch, 19. Dezember 2018 – Sinnieren über den „Spiegel“
Die Tücken des täglichen Bloggens, bei dem man immer das Datum vom gestrigen Tag angibt und das mich in den vergangenen Jahren gefühlt über tausendmal aus dem getippten „gestern“ – wenn ich einen Eintrag am Abend des betreffenden Tags vorschreibe – ein „vorgestern“ hat machen lassen, haben auch Vorteile: Ich habe erst gestern (gestern!) gemerkt, dass ich irgendwann im Dezember angefangen habe, das Datum des Blogeintrags, aber nicht das tagesaktuelle an meinem Adventskalender zu öffnen. Weswegen ich gestern (gestern!) zwei Türen leerfuttern konnte.
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Den ganzen Tag vor Büchern oder Amazon Primes Videothek rumgehangen; ich bin im House-Rewatch in der sechsten Staffel angekommen. Hat sich gut gehalten, die Serie, ich stolpere aber, wie schon zur Erstausstrahlung, sehr über die vielen, höflich ausgedrückt, politisch unkorrekten Äußerungen der Hauptfigur, die mir damals schon als unangenehm aufstießen und die ich heute als schlicht arschig und betriebsblind empfinde.
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Nach 100 Keksdekoriervideos in meiner Facebook-Timeline habe auch ich endlich das Rezept für Royal Icing ergoogelt (ein Eiweiß auf 250 Gramm Puderzucker), anstatt wie sonst üblich einfach aus Zitronensaft und Puderzucker nach Augenmaß Zuckerguss anzurühren. In den Videos kam es mir so vor, als ob die feine Umrisslinie arg schwierig werden würde, das Ausfüllen („flooding“) mit flüssigerem Guss aber babyeinfach.
Nun ja.
Weihnachten, die Freddy-Krüger-Edition.
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Was mich den ganzen Tag im Hinterkopf beschäftigte, war die Story im Spiegel, der einen Journalisten entlassen musste, nachdem ein Kollege den Rest der Redaktion darauf aufmerksam gemacht hatte, dass viele Details an dessen Reportagen nicht stimmen bzw. einige vielleicht sogar komplett erfunden worden waren.
Der Redakteur Ullrich Fichtner berichtet in einer langen Reportage – äh, was? – über den Fall:
„An “Jaegers Grenze” wird [der später entlassene Claas] Relotius scheitern. Es ist der eine gefälschte Text zu viel, weil er diesmal einen Co-Autor hat, der seinen “Quatsch” nicht mitmacht, der Alarm schlägt und bald Fakten gegen die Fiktionen sammelt. Juan Moreno ist dieser Co-Autor, seit 2007 als Reporter für den SPIEGEL in aller Welt unterwegs. Im Streit mit und über Relotius riskiert Moreno seinen eigenen Job, zwischenzeitlich recherchiert er dem Kollegen, verzweifelt, auf eigene Kosten hinterher. Drei, vier Wochen lang geht Moreno durch die Hölle, weil Kolleginnen und Vorgesetzte in Hamburg seine Vorwürfe anfangs gar nicht glauben können. Relotius? Ein Fälscher? Der bescheidene Claas? Ausgerechnet?
Es wird im SPIEGEL noch Ende November, Anfang Dezember für möglich gehalten, dass Moreno in diesem Spiel der eigentliche Halunke ist und Relotius das Opfer einer üblen Verleumdung. Geschickt pariert Relotius alle Angriffe, alle gut recherchierten Beweise Morenos. Immer wieder findet er Mittel, Zweifel zu säen, Vorwürfe plausibel zu entkräften, die Wahrheit mit allen Mitteln zu seinen Gunsten zu verdrehen. Bis es irgendwann doch nicht mehr geht. Bis er endgültig nicht mehr schlafen kann, gejagt von der Angst vor Entdeckung. Relotius bricht ein, vergangene Woche, als ihn seine Vorgesetzte Özlem Gezer, Vizechefin des SPIEGEL-Gesellschaftsressorts, zur Rede stellt und ihm auf den Kopf zusagt, dass sie ihm nicht mehr glaubt. Am Donnerstag dann setzt er sich hin mit seinen Ressortleitern, mit einem Chefredakteur, und macht reinen Tisch, oder jedenfalls das, was er dafür hält.“
Das Stück ist sehr lesenswert, weil es recht genau berichtet, was passiert ist. Es macht mich aber trotzdem fassungslos, dass der Spiegel in genau dem gleichen Stil mit Relotius abrechnet, anders kann man das nicht nennen, der dazu geführt hat, dass letzterer munter fabulieren konnte. Das sah meine Timeline gestern ähnlich; die Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier schrieb:
„Ein wenig eigentümlich kommt mir vor, daß Fichtner hier diesen Fall als Anlaß nimmt, selbst eine “verdammt gute Geschichte” zu schreiben. Vielleicht hätte eine nüchterne Mitteilung mit den wichtigsten Details auch gereicht. Diese Dauerverwertung ist doch Kern des Problems.“
Der Spiegel hat, ganz internetkompatibel, auch noch eine kurze FAQ online gestellt, falls man sich die Reportage eben nicht durchlesen möchte.
Stefan Niggemeier, der selbst kurz beim Spiegel gearbeitet hat, nahm Fichtners Reportage auseinander. Leider nur hinter einer Paywall, aber schon die Einleitung ist lesenswert, weil sie verdeutlich, dass das Problem hausgemacht ist:
„Als ich für den „Spiegel“ gearbeitet habe, vor sechs, sieben Jahren, hatte das Gesellschaftsressort den Ruf, es im Zweifel nicht zu übertreiben mit der Wahrheitsliebe. Gemeint waren damit sicher keine Fälschungen und Erfindungen, aber Verdichtungen, Zuspitzungen, kreative Freiheiten. Die Unterstellung lautete: Das wichtigste Ziel sei es, die bestmögliche, dichteste, begeisterndste Geschichte zu erzählen, nicht unbedingt die genaueste.
Da war etwa ein Artikel über ein Stadion in Kabul, in dem Ende der neunziger Jahre die Taliban Menschen hinrichteten, und 2012 wieder Fußballspiele stattfanden. Ein Artikel, der den ganzen Wandel des Landes in einen einzigen Ort zu konzentrieren schien.
Die Geschichte hatte den kleinen Haken, dass es sich nicht um dasselbe Feld handelt. Der Ort der Hinrichtungen und der Ort des Fußballspiels sind nicht weit voneinander entfernt und gehören zum selben Komplex. Aber es ist nicht derselbe Platz.
Das wäre ein unwichtiges Detail, wenn der Text nicht genau dieses unwichtige Detail explizit zum zentralen Punkt der Geschichte gemacht hätte, der sie ganz besonders aufregend macht:
„Dasselbe Stadion, dasselbe Feld, gedacht für dasselbe Spiel. Damals Tod, heute unbändiges Leben.“
Blöd, wenn eine Leserin merkt, dass das nicht stimmt. Aber auch dank solcher Verdichtungen werden aus Reportagen im besten Fall Preisreportagen.“
Dazu passend der Tweet der Journalistin Andrea Diener (von ihrem anonymen Account (?), daher kein Link), die gestern auf das alte Zitat von Hans Magnus Enzensberger verwies, nach dem der Spiegel kein Nachrichtenmagazin sei, wie es im hauseigenen Untertitel heißt, sondern ein Story-Magazin:
„Während die Nachricht im allgemeinen für Unterhaltungszwecke ungeeignet und kein Genuß-, sondern ein Orientierungsmittel ist, stellt die Story ganz andere Bedingungen: Sie muß Anfang und Ende haben, sie bedarf einer Handlung und vor allem eines Helden.” Und: “Die Story ist eine degenerierte epische Form; sie fingiert Handlung, Zusammenhang ästhetische Kontinuität. Dementsprechend muss sich ihr Verfasser als Erzähler aufführen, als allgegenwärtiger Dämon, dem nichts verborgen bleibt und der jederzeit, wie nur ein Cervantes ins Herz des Don Quijote, ins Herz seiner Helden blicken kann.”
Genau dieses Storytelling hat mich jahrelang fasziniert. Ich habe den Spiegel in den 80ern und Anfang der 90er Jahre regelmäßig, so ziemlich wöchentlich gelesen. Die Jahrgänge 1989/90 standen ewig in Pappschubern auf dem Dachboden meiner Eltern und durften nicht weggeschmissen werden wegen des historischen Inhalts. Inzwischen weiß ich erstens, dass ich das alles auch in einer Bibliothek nachlesen kann und zweitens, dass auch der Spiegel nur mit Wasser kocht. Als ich Anfang der 2000er Jahre für eine Story über die damals noch neuen Weblogs angefragt wurde, lehnte ich ab, weil ich keine Lust hatte, in genau dieser Erzählweise verwurstet zu werden. Ich unterstellte auch gleich eine gewisse Agenda („diese seltsamen Exhibitionisten im Interweb“) und lehnte mit dieser Unterstellung meine Teilnahme ab. Die damalige Autorin meinte zwar, das seien Vorurteile, aber die erschienene Geschichte hat mich sehr bestätigt. Wir sind hier alle irre und breiten das auch noch groß aus, alles ganz schlimm.
Es war für mich ein einschneidendes Erlebnis zu merken, dass auch der heilige Spiegel von Menschen geschrieben wird, die von ihren Themen manchmal keine Ahnung haben, aber immer eine Agenda. Wenn’s normal läuft, kommen dann Artikel dabei heraus, die sich auch so lesen, wenn’s schlecht läuft, sowas wie die Reportagen von Relotius – dessen Name mir bis gestern übrigens kein Begriff war, weil ich den Spiegel eben nicht mehr lese außer wenn mich Geschichten anspringen wie das Interview mit Okwui Enwezor. Seit einer unglaublich miesen, vorurteilsbelastenen Story über das Dicksein fasse ich auch die Zeit nicht mehr an, well done, dünne Menschen, die Dicke doof finden.
Generell hadere ich seit Jahren mit wöchentlichen Magazinen, die ich ebenso jahrelang genau deswegen gelesen habe: weil sie wöchentlich und damit mit etwas Abstand zum Geschehen erschienen und mir so die Möglichkeit einer Einordnung bieten konnten. Inzwischen bin ich mit einer aktuelleren Tageszeitung besser bedient, auch wenn die natürlich genauso eine Agenda hat; nicht umsonst lesen sich die FAZ und die taz zum gleichen Sachverhalt sehr unterschiedlich. Genau deswegen musste jetzt auch mein FAZ-Abo dran glauben – nach über einem Jahr konservativem Politikteil muss ich mein Hirn mal wieder mit Seife auswaschen und werde auf die Süddeutsche umschwenken, die ich nie durchlesen werde, weil sie viel zu dick ist.
Auf die Beschleunigung im Nachrichtenwesen wies vor Kurzem die sehr gute Doku zur New York Times hin, wo der Chefredakteur sinngemäß meinte: Wenn früher am Vormittag etwas passiert sei, wussten alle, dass man darüber morgen etwas in der Zeitung lesen wird. Heute klickt man sofort ins Internet und erwartet alle 20 Minuten ein Update.
Ich ahne, dass nicht nur die Spiegel-Kultur des Geschichtenerzählens, sondern auch unser Hunger nach immer neuen Geschichten dazu beigetragen hat, dass Dinge verkürzt oder verfälscht werden. Es ärgert mich, dass es Leser*innen sein müssen, die das aufklären, weil es ihnen halt auffällt. Eine der Storys von Relotius über eine Trump-wählende Kleinstadt in den USA widerlegten zwei Bewohner dieser Stadt selbst, angefangen beim Ortsschild am Eingang, das der Reporter schon falsch beschrieb, bis hin zu seltsamen Details, die niemand braucht:
„Perhaps the oddest fiction in a list of many is Relotius’ depiction of Bremseth as someone who “would like to marry soon…but he has not yet been in a serious relationship with a woman. He has also never been to the ocean.”
We can attest that Bremseth has indeed been to the ocean, by his account, “many times” and is currently happily involved in a multi-year, cohabitational relationship with a woman named Amber. In fact, here’s a picture of the two of them in front of, all things, an ocean.“
Stefan Niggemeier verlinkte heute morgen auf den Text „Die Verniedlichung der Welt“ von Claudius Seidl von 2010 über die hübschen Reportagen, die gerne Literatur wären, was auch ein Teil des Problems ist – Journalist*innen, die gerne etwas anderes wären. Auch in Werbeagenturen laufen viele Texter*innen rum, die glauben, dass in ihnen der große Roman des 21. Jahrhunderts schlummert, und ebenso viele Grafiker*innen, die meinen, sie seien Picasso. Vielleicht sollte einfach jede*r wieder seinen Job machen.
„”Eine schöne Geschichte”, so muss man sich das wohl vorstellen, sagt ein Juror zum anderen, wenn sie diese Reportage aus der “Zeit” preisen, über den Serienkiller und den Kommissar, dem der Killer all seine Verbrechen gesteht, die Reportage also, welche im Winter den sogenannten Reporterpreis gewann – und offenbar mag sich keiner eingestehen, dass eine Ästhetik, die alles erklären, begründen, einsortieren kann, eine Ästhetik, die also zugleich alles Unverstandene und Unversöhnte, alles Unerklärliche und Unsagbare ausschließt, eine Ästhetik, in der wirklich jedes Phänomen den Begriff findet, der wie ein Deckel darauf passt, dass so etwas die Ästhetik von bemalten Tellern und selbstgetöpfertem Regalschmuck ist.
So harmlos.
Toll geschrieben, denkt man sich, wenn man das Kanzlerinnenporträt aus dem “Spiegel” liest, das am Freitagabend für den Kisch-Preis nominiert war, und es liest sich ja sehr flüssig bis zu dem Moment, in dem es dem Leser auffällt, dass der Autor sich die Freiheit nimmt, in nahezu jeden Kopf, der im Weg herumsteht, hineinzukriechen und von dort drinnen zu berichten, wie es sich so denkt und fühlt in diesem Kopf. Das, ein äußerst populäres Verfahren in der Preisträger- und Nominiertenprosa der vergangenen fünf, sechs Jahre, sieht auf den ersten Blick so aus wie echte Literatur. Und ist noch nicht einmal seriöser Journalismus. Wenn schon die Schlagzeile “Regierung will Steuern senken” ungenau ist, weil wir Journalisten nicht wissen können, was die Regierung wirklich will; wir wissen nur, was sie sagt, dass sie wolle – dann ist die Behauptung, einer wisse, was ein anderer denke, ein Bluff und eine Hochstapelei. Und wenn es Literatur wäre, dann wäre es trivial. Richtige Literatur versagt es sich, die Gedanken sämtlicher Figuren zu lesen.
Und genau das ist das Problem mit den Preisträgerreportagen: Sie wollen Literatur sein, sie weigern sich aber, das Kleingedruckte zur Kenntnis zu nehmen. Keine Selbstreflexion, kein Bewusstsein davon, dass es jenseits der Sätze das Unsagbare geben könnte, jenseits der Psychologie das Unerklärte. Eine Geschichte hat einen Anfang, und am Schluss laufen alle Stränge des Erzählens wieder zusammen. Ein Abgrund heißt Abgrund, und wer hineinschaut, sieht, wie das Schicksal mit Playmobilfiguren spielt. So ein Preisträgertext geht mit dem Serienkiller zum Kaffeetrinken und mit der Kanzlerin zum Schwimmen im See, und Gedanken, die man lesen kann, tun keinem richtig weh.
Aber weh tun soll es auch nicht. Hauptsache, die Leser gucken betroffen. Oder wenigstens die Juroren von Reportagepreisen.“