Tagebuch Dienstag, 5. Februar 2019 – Zweig durchgelesen
Mein Wecker klingelte ein paar Minuten vor F.s und ich schälte mich brav sofort aus dem Bett, stellte die Espressomaschine an, damit sie vorheizen konnte, ging duschen, trödelte vorm Deutschlandfunk rum und konnte wieder ein Buch auf meine Leseliste werfen. (Ökumene um jeden Preis? Ein protestantischer Zwischenruf) Es kann sein, dass ich über das Buch schon am Montag was gehört habe, wo B5, mein Standard-Nachrichtensender fürs Bad, mal wieder einen äußerst miesen Empfang hatte, weswegen ich der Konkurrenz lauschte.
Ich bloggte ein bisschen, während F. noch gefühlt stundenlang wach wurde, trank meinen Cappuccino, verabschiedete den Herrn in den Tag, zog mir Büroklamotten an und begann den Abstieg in den Texterflöz. Netterweise war ich mittags fertig mit dem Text, den ich heute zum Kunden schicken werde, und hatte nun entspannt Zeit, in die Unibibliothek zu fahren.
Von dort holte ich mir vier Bücher, nachdem ich misstrauisch die neuen Selbstverbuchungsterminals angeschaut hatte. Anscheinend traut die Bibliothek uns jetzt mehr als früher; sonst musste man alles, in dem man eventuell Bücher aus dem Raum schmuggeln könnte – Jacken, Rucksäcke, Laptophüllen – ins Schließfach werfen, was aber 100 Meter weit weg war (viel zu weit!) oder den Kram in offenen Regalen ablegen, bevor man durchs Drehkreuz ging, sich die Bücher aus dem Ablagefach holte und sie von einer Mitarbeiterin verbuchen ließ. Wenn ich aus dem ZI kam, sah das meistens so aus, dass ich Jacke und Rucksack ins Regal stopfte, den Laptop aus der Hülle nahm und so mit Portemonnaie und Rechner durchs Drehkreuz ging, den Rest hätte man mir ruhig klauen können. (Hat netterweise nie jemand gemacht.)
Jetzt darf man mit Jacke und Rucksack rein, muss durch kein Drehkreuz mehr, holt sich einfach seine Bücher und geht dann ans eins von zwei Selbstbedienungsterminals, die ich so ähnlich aus der Stadtbücherei München kenne. Dort hält man seinen Ausweis vor irgendein Lesegerät, von dem ich immer noch nicht weiß, wo es genau ist, ich glaube inzwischen, das Terminal erspäht den Ausweis schon in der Hosentasche. Dann legt man den kompletten Stapel auf einen ausgewiesenen Platz, wo das System durch lustige RFID-Technologie (oder wie ich es nenne: Zauberei) alle Bücher einliest, verbucht und dich fragt, ob du eine Quittung willst. Man muss nichts einzeln unter irgendwelche Lesegeräte halten, es geht irre schnell, und ich kriege endlich keine nutzlose Quittung mehr, die ich früher sowieso gleich nach dem Drehkreuz weggeschmissen habe.
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Leicht bepackt schlenderte ich dann durch die Ausleihhalle zum Ausgang und betrachtete wie immer die Vitrinen, in denen mal wieder eine Ausstellung einlud. Meist präsentiert die Bibliothek hier ihre Neuerwerbungen oder weist auf besondere Exemplare in ihrer Sammlung hin, manchmal gestalten aber auch Uni-Seminare die Vitrinen. In einem meiner Seminare haben wir die kunsthistorische Präsenzbibliothek bei uns im Institut auf Raubkunst untersucht – das war mein erstes Seminar bei meinem jetzigen Doktorvater. Dazu hat jeder von uns, ich meine, fünf oder so Regalmeter zugeteilt bekommen – also fünf Regale, die alle zwei Meter hoch sind – und wir mussten nun jedes Buch aufschlagen, das vor 1945 gedruckt wurde, und nach Widmungen schauen, Exlibris, irgendwelche Notizen vorne oder hinten im Deckel, die darüber Aufschluss gaben, wem das Buch einmal gehört haben könnte und wie es in unsere Sammlung gelangt war.
Ich hatte in meinen Büchern netterweise nichts, was irgendwie nach Raubgut aussah, wobei ich mir – und das Seminar mit mir – bei einem Buch über Holbein den Jüngeren von Hermann Knackfuß nicht sicher war: In ihm fand sich die Zeile „Max Förster, Dora Cohen, Bonn, 95“. Max Förster war ein Anglist, der auch an der Uni München gelehrt hatte und 1934 von den Nationalsozialisten zwangsemeritiert wurde. Er hatte 1899 Dora Cohen geheiratet. Deren jüdische Herkunft kann ich nur vermuten, ich finde online gerade nichts über sie. Und wir konnten nicht nachweisen, ob das Buch nun eine späte Schenkung oder Raubkunst war.
Ich habe gerade meine kleine Liste aus dem dritten Semester noch einmal durchgelesen; die einzigen prominenten Namen, die ich fand, waren Eduard von Keyserling, Walter Bareiss (im Buch war ein Aufkleber „Aus der Sammlung Bareiss“) sowie Hermann Mayrhofer, dessen Buch garantiert keine Raubkunst war, da er selbst am NS-System beteiligt war („sein“ Buch stammte von 1944).
Andere Teilnehmer*innen des Seminars wurden aber fündig und so organisierten sie eine Vitrinenausstellung über ihre Bücher. Das war aber ein Folgeseminar, an dem ich nicht mehr teilnahm.
Aber zurück zur derzeitigen Ausstellung: Bis April kann man dort etwas über Paul Renner erfahren, dem Gestalter der wunderschönen Futura. Ich fand besonders seinen Grabstein sehenswert, der natürlich in welcher Schrift gestaltet wurde? Genau.
Weil das Foto so mies war – halt durch das Vitrinenglas mit fieser Deckenlampenspiegelung –, suchte ich im Interweb nach einem anderen Foto des Grabsteins, fand aber keins. Dafür aber ein bestimmt interessantes Buch, dessen Titel mir sehr gefiel: „Never use Futura unless you are …“ und wer das ist, lest ihr euch bitte selbst auf dem Cover durch, denn das ist zu lang.
Ich habe außerdem gelernt, dass die Plakette, die von den Apollo-11-Astronauten auf dem Mond hinterlassen wurde, auch in der Futura gestaltet ist.
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Nach den geliehenen Büchern brauchte ich dringend noch gekaufte. Am Samstag hatte ich sie vorbestellt, jetzt holte ich sie mir ab und trug so einen fast nur aus Suhrkamp-Büchern bestehenden Stapel nach Hause. Ich fühlte mich schon beim Schleppen schlau.
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Nachmittags betrieb ich ein bisschen digitalen Frühjahrsputz, löschte meinen Flickr-Account, die Podcast-Community auf Google+ und gefühlt 1000 Facebook-Posts. Der Account ist jetzt quasi leergefegt von allen Memes und lustigen Bildern, jetzt gibt es nur noch Links zu meinem Blog oder eigenhändig verfasste Einträge. Wie ich missmutig feststellte, hatte ich 2009 und 2010 eine Weiterleitung von Twitter, das heißt, jeder Tweet wurde auch auf Facebook veröffentlicht. Die werde ich nicht löschen, da werde ich ja irre.
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Den Abend verbrachten F. und ich gemeinsam. Er begann mit einer minutenlangen DM-Diskussion, wo wir was essen wollten, und als wir uns endlich auf „bodenständig und warm“ geeinigt hatten, blieb uns quasi nichts anderes übrig, als zum aus der Zeit gefallenen Dalmatinergrill zu fahren, wo ich mich immer wie in den 80er Jahren fühle und wo man noch Fleischberge mit Pommes und rohen Zwiebeln kriegt. Genau das, was ich gestern wollte.
Wir fuhren mit der U-Bahn nach Hause, ich wusch noch ab, F. las das Internet leer, dann gingen wir ins Bett, wo ich Stefan Zweig auslas, während F. das Ende vom Dortmund-Bremen-Spiel auf dem Handy guckte; ich sah noch die letzten drei Elfer, aber das scheint ja gereicht zu haben. Bitte heute abend mal Augschburg die Daumen drücken, die für den Pokal nach Kiel müssen.
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Ich lasse euch mal wieder ein bisschen Welt von gestern als Rausschmeißer da. Ja, ich copypaste den oft, aber jetzt habt ihr es hinter euch. Schade eigentlich, denn das Buch wandert schon mal dicke als erster Anwärter fürs beste Sachbuch auf die Jahresendliste. Mir hat die zusätzliche, persönliche Ebene viel für die Zehner- und Zwanzigerjahre gegeben, in denen ich gerade wissenschaftlich rumhänge, um vielleicht die ollen Dreißiger besser zu verstehen. Ich mochte seinen schlichten Stil sehr gerne, auch wenn es mich wahnsinnig gemacht hat, dass der Mann beim Plusquamperfekt meist auf das letzte Wörtchen verzichtete. Ein Beispiel, gerade einfach mal das Buch irgendwo aufgeschlagen, und zack, ein Beispielsatz für das, was ich meine: „Aber dann staunte er, als ich ihm haargenau in Farbe und Format die kleine literarische Zeitschrift beschrieb, in der wir 1898 in Wien seine ersten Verse gefunden.“ HATTEN! IST DAS SO SCHWER? HATTEN! Macht mich irre. Auf je-der Seite!
Okay, abgeregt.
Stefan Zweig, meine Damen und Herren, aus dem letzten Kapitel:
„Der Fall Österreichs brachte in meiner privaten Existenz eine Veränderung mit sich, die ich zuerst als eine gänzlich belanglose und bloß formelle ansah; ich verlor damit meinen österreichischen Paß und mußte von den englischen Behörden ein weißes Ersatzpapier, einen Staatenlosenpaß erbitten. Oft hatte ich in meinen kosmopolitischen Träumereien mir heimlich ausgemalt, wie herrlich es sein müsse, wie eigentlich gemäß meinem inneren Empfinden, staatenlos zu sein, keinem Lande verpflichtet und darum allen unterschiedslos zugehörig. Aber wieder einmal mußte ich erkennen, wie unzulänglich unsere irdische Phantasie ist, und daß man gerade die wichtigsten Empfindungen erst versteht, sobald man sie selbst durchlitten hat. Zehn Jahre früher, als ich Dimitri Mereschkowskij einmal in Paris begegnete und er mir klagte, daß seine Bücher in Rußland verboten seien, hatte ich Unerfahrener noch ziemlich gedankenlos ihn zu trösten versucht, das besage doch nicht viel gegenüber internationaler Weltverbreitung. Aber wie deutlich begriff ich, als dann meine eigenen Bücher aus der deutschen Sprache verschwanden, seine Klage, nur in Übertragungen, in verdünntem, verändertem Medium das geschaffene Wort zur Erscheinung bringen zu können! Ebenso verstand ich erst in der Minute, da ich nach längerem Warten auf der Bittstellerbank des Vorraums in die englische Amtsstube eingelassen wurde, was dieser Umtausch meines Passes gegen ein Fremdenpapier bedeutete. Denn auf meinen österreichischen Paß hatte ich ein Anrecht gehabt. Jeder österreichische Konsulatsbeamte oder Polizeioffizier war verpflichtet gewesen, ihn mir als vollberechtigtem Bürger auszustellen. Das englische Fremdenpapier dagegen, das ich erhielt, mußte ich erbitten. Es war eine erbetene Gefälligkeit und eine Gefälligkeit überdies, die mir jeden Augenblick entzogen werden konnte. Über Nacht war ich abermals eine Stufe hinuntergeglitten. Gestern noch ausländischer Gast und gewissermaßen Gentleman, der hier sein internationales Einkommen verausgabte und seine Steuern bezahlte, war ich Emigrant geworden, ein ›Refugee‹. Ich war in eine mindere, wenn auch nicht unehrenhafte Kategorie hinabgedrückt. Außerdem mußte jedes ausländische Visum auf diesem weißen Blatt Papier von nun an besonders erbeten werden, denn man war mißtrauisch in allen Ländern gegen die ›Sorte‹ Mensch, zu der ich plötzlich gehörte, gegen den Rechtlosen, den Vaterlandslosen, den man nicht notfalls abschieben und zurückspedieren konnte in seine Heimat wie die andern, wenn er lästig wurde und zu lange blieb. Und ich mußte immer an das Wort denken, das mir vor Jahren ein exilierter Russe gesagt: »Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er noch einen Paß dazu, sonst wird er nicht wie ein Mensch behandelt.«“