Tagebuch Mittwoch, 20. Februar 2019 – Neu eingekleidet
Okay geschlafen, aber recht lange nicht eingeschlafen. Nicht weil ich wieder ein schönes Buch vor der Nase hatte, das nicht warten konnte, sondern weil ich mir Sorgen um Zeug gemacht habe, das größtenteils außerhalb meines Einflussbereichs liegt. Also genau das richtige, um nicht schlafen zu können, weil man sich nicht sagen kann: „So, morgen mache ich das und dann passiert genau das“, sondern: „Ich mache morgen das und hoffe, dass eventuell das passiert, was ich mir wünsche.“
Zwar den Wecker morgens nicht ausgetreten, aber trotzdem stumm liegengeblieben und an die Decke geguckt. Irgendwann die morgendliche DM von F. bekommen und endlich aufgestanden, geduscht, Kaffee gemacht, den vorgestern geschriebenen Blogeintrag verbessert und veröffentlicht.
Der Plan war, meine Diss-Exposition vorzeigbar zu machen, aber gestern lag mir nichts ferner als das. Also erledigte ich Kleinkram, Anrufe, die ich vor mir hergeschoben hatte, vereinbarte Termine, machte Bürozeug. Die Ablage ist ja nie dringender als an den Tagen, an denen man eigentlich etwas anderes erledigen sollte. Als ich dann aber einen Termin erledigen wollte, bekam ich dort gute Ratschläge statt einer Verabredung, die nun nicht mehr nötig war und hatte plötzlich einen neuen Tagesplan, auf den ich auch weitaus mehr Lust hatte als auf mein exzentrisches Hobby, denn mehr ist die Diss gerade nicht.
Und so saß ich ab dem frühen Mittag nicht mehr am Schreibtisch, sondern inspizierte beim Optiker um die Ecke diverse Brillengestelle.
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Meine derzeitige Brille ist mindestens fünfzehn Jahre alt, genau weiß ich es schon gar nicht mehr. In der letzten Zeit bemerkte ich öfter, dass ich nur noch mit Mühe die Anzeigen in den U-Bahnhöfen lesen konnte, manche Straßenschilder riet ich eher als sie zu lesen, in der Bibliothek hielt ich manchmal die Bücher etwas weiter von mir weg, anstatt die Nase reinzustecken, und nach fünfzehn Jahren könnte man ja auch mal wieder die Dioptrienwerte checken lassen.
Also ging ich zum Optiker, bei dem ich im Vorbeigehen schon oft genug gesehen hatte, dass er viele Gestelle hatte, die mir zusagten (gucken Nicht-Brillenträgerinnen bei Optikerinnen in die Schaufenster?), und bat um eine Untersuchung. Wir vereinbarten einen Termin am Nachmittag, aber wenn ich schon mal hier sei, könne ich ja gleich ein paar Gestelle aufsetzen? Aber hallo!
Ich mag meine Brille immer noch, deswegen wollte ich nichts großartig anderes, nur etwas größer dürften die Gläser sein. Wir fanden relativ schnell mehrere Gestelle, die mir gefielen, und dann probierte ich natürlich alle weiteren Gestelle auf, von denen ich schon vorher wusste, dass sie mir nicht stehen, die ich aber einfach mal auf der Nase haben wollte. Seit ich irgendwann in den 1980er Jahren die Blues Brothers gesehen habe, will ich die klassische Wayfarer von Ray-Ban haben (gibt’s auch als Nicht-Sonnenbrille), probiere sie immer wieder auf und muss mir seit nun fast 40 Jahren eingestehen, dass sie einfach nicht zu mir passt. Aber ich setze sie jedesmal wieder auf und hoffe, dass mir inzwischen das richtige Gesicht dafür gewachsen ist. Ist es bis jetzt nicht, aber ich gebe die Hoffnung weiterhin nicht auf. Gestern den Entschluss gefasst: Mit spätestens 70, wenn ich so alt werden darf, wird das Ding gekauft, passende Passform oder nicht. Mit 70 muss ich hoffentlich weder auf Kunden noch auf potentielle Lebensgefährten mehr Eindruck machen müssen; dann trage ich nur noch Leggings, bunte Kaftane, ein Tuch um den Kopf, scheiß auf die Frisur, Sneakers auch in die Oper und eine Ray-Ban. Mit 70 darf ich alles.
Ein paar Managerbrillen in Metall probierte ich natürlich auch auf, nur um mich zu schütteln, ein paar bunte Gestelle, weil bunt halt, aber eigentlich hatten wir nach zwanzig Minuten die gefunden, die ich haben wollte. Ich konnte mich noch nicht ganz zwischen dunkelgraublau und braun entscheiden, ließ mich vom Optiker per iPhone fotografieren und besah mir zuhause in den Stunden bis zum Termin weiterhin das Gestell auf meiner Pixelnase.
Als ich dann um 15 Uhr wieder ankam, war der freundliche junge Herr vom Mittag nicht mehr da, stattdessen bediente mich eine junge Dame, für die ich nochmal beide Gestelle aufsetzte. Woraufhin die Dame meinte: „Die stehen Ihnen beide sehr gut, aber merken Sie, dass die Gläser eher auf den Wangen aufliegen als auf der Nase?“ Nein, das hatte ich nicht gemerkt, erst in dem Moment, als sie es ansprach. Ich erinnerte mich schlagartig an jeden Sommer mit meiner jetzigen Brille, die nur durch den Nasensteg da bleibt, wo sie hingehört, sie hat keine von diesen zwei Metallschräubchen, an denen Kunststoffplättchen kleben, die man notfalls verbiegen kann, bis die Brille gut sitzt, aber dafür sieht sie halt nur mit dem Nasensteg netter aus (finde ich). In jedem Sommer bin ich damit beschäftigt, die Brille die Nase hochzuschieben, weil sie durch meinen ständig vorhandenen leichten Schweißfilm runterrutscht. Und dabei streiche ich grundsätzlich den Schweiß zwischen Wangen und Gestell weg. Die Aussicht, das nun dauernd machen zu müssen, weil die Brille jetzt vermutlich deutlich öfter auf den Wangen liegt, gefiel mir gar nicht. Ich wollte aber auch keine doofen Plastikpröppel, die man theoretisch an das ausgesuchte Gestell hätte randengeln können. Ich bat lieber um ein anderes Gestell, und die hilfsbereite und gründliche Dame hatte auch relativ schnell eine Alternative parat (sogar günstiger als das bisher angepeilte Modell), deren Gläser etwas kleiner waren, aber immer noch deutlich größer als meine bisherige Brille. Dieses Mal machte ich schnell Selfies, während sie noch weiter suchte und verglich und verglich – und mochte die Alternative dann ziemlich genauso gerne wie das Modell vom Morgen.
Wunderbar, dann konnten wir ja lustig Dioptrien messen. Da hat sich in den letzten fünfzehn Jahren nicht viel verändert, man hockt vor dem Metallgestell, guckt durch Linsen, die ständig gewechselt werden und muss achtzigmal „So besser oder schlechter?“ beantworten, bis die Optikerin zufrieden ist. Was ich noch nicht kannte: Die nun ausgewählten Linsen wurden in eine Brille eingepasst, die für mich so aussah, als wäre sie aus Lego. Damit wurde ich nun wieder nach vorne in den Laden gebeten, aus dem man auf die Straße schauen konnte, damit ich das fern sehen mal ausprobieren könnte. Auch dort wurde noch an mir gearbeitet, mit mobilen Plättchen – „so besser oder schlechter?“ –, und als ich dann auch bei Tageslicht und mit weiter entferntem Sehziel zufrieden war, suchten wir die passenden Gläser aus, eine Wissenschaft für sich, was weiß denn ich über Entspiegelungen und Beschichtungen. Einfach aus dem Bauch raus das mittelteure bestellt.
Im Laden war gerade eine Mutter mit einem kleinen bebrillen Mädchen, das mich fasziniert, aber auch irgendwie ängstlich anschaute, als ich mit der schlimmen Legobrille durch den Laden spazierte. Ich meinte zu ihr: „Du kriegst auf jeden Fall eine schönere Brille!“, was sie sehr lustig fand.
Über eine Gleitsichtbrille dachte ich auch kurz nach; die Optikerin meinte, dass das schön sei, dass es jetzt noch ginge mit dem Bücher weiter weg halten, aber irgendwann sind die Arme eben auch nicht mehr lang genug. Und: Mit den neuen Gläsern werde ich ja quasi noch weitsichtiger. Daran hatte ich nicht gedacht. Aber mit der Legobrille auf der Nase bekam ich einen Folder vorgelegt, der in verschieden großen bzw. kleinen Buchstaben gedruckt war, und bis auf die letzte Zeile konnte ich alles prima lesen. Und für diese letzte Zeile waren die Arme noch locker lang genug. Also: erstmal keine Gleitsichtbrille.
Wenn ich Glück habe, kann ich schon Freitag mit neuen Gläsern durch München spazieren, spätestens nächste Woche. Es ist übrigens die links im Bild geworden, auch weil sie wirklich sofort perfekt auf der Nase saß. Und sie ist ein winziges bisschen bluesy!
Das vormittägliche Gestell wäre von William Morris gewesen und im Kopf hatte ich natürlich schon einen schönen Prä-Brexit-Einkauf fürs Blog vorformuliert, aber jetzt ist es eine Longchamp geworden. Auf die deutsch-französische Freundschaft!
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Nach dem doch recht langen, weil gründlichen Termin ging ich noch schnell einkaufen und vergaß wie immer, wenn ich Lust auf Lasagnemachen habe, dass ich alleine wohne und sie nie schaffe. Ich habe dann jetzt für drei bis vier Tage Essen. Mit einer etwas zu beherzt gewürzten Bechamelschicht, aber Pfeffer ist ja bestimmt gesund.