Tagebuch Donnerstag, 21. Februar 2019 – Alltag
Gearbeitet, über die FAZ gemeckert, die FAZ gemocht, gelesen, Reste der vorgestern zubereiteten Lasagne zu zweit verspeist, ein Spätburgunder zum Abendessen, gemeinsam eingeschlafen.
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Ich lese gerade Wolfgang Koeppens Das Treibhaus, von dem ich vorher nur eine vage Vorstellung hatte. Ich wusste, dass der Roman 1953 erschienen war und hatte mich auf irgendwas in Richtung Böll eingestellt. Das ist es nicht ganz, die Sprache ist recht oft eher assoziativ als beschreibend, aber bis jetzt mag ich es sehr gerne. Über ein paar Altherrenformulierungen, obwohl der Verfasser damals noch nicht wirklich alt war, sehe ich mal gnädig hinweg.
Wir befinden uns im Schlafwagen auf dem Weg nach Bonn, zusammen mit der Hauptfigur des Abgeordneten Keetenheuve und einem Haufen Lobbyisten.
„Nicht alle Abgeordneten reisten im Bundesbahnbett. Andere kamen im Auto zur Hauptstadt gefahren, quittierten das Kilometergeld und standen sich gut dabei; sie waren die schärferen Hechte. Auf der Rheinstraße brausten die schwarzen Mercedeswagen neben dem Wasser stromabwärts. Stromabwärts der Schlick, stromabwärts das Treibholz, stromabwärts Bakterien und Kot und die Laugen der Industrie. Die Herren hockten neben ihrem Fahrer, sie hockten hinter ihrem Fahrer, sie waren eingenickt. Die Familie hatte einen strapaziert. Körperabwärts, unter dem Mantel, der Jacke, dem Hemd, lief der Schweiß. Schweiß der Erschöpfung, Schweiß der Erinnerung, Schweiß des Schlummers, Schweiß des Sterbens, Schweiß der Neugeburt, Schweiß des Wohingefahrenwerdens und wer weiß wohin, Schweiß der nackten, der bloßen Angst. Der Fahrer kannte die Strecke und haßte die Gegend. Der Fahrer konnte Lorkowski heißen und aus Masuren sein. Er kam aus den Tannenwäldern; da lagen Tote. Er gedachte der Seen in den Wäldern; da lagen Tote. Der Abgeordnete hatte ein Herz für die Vertriebenen. Das soll hier nun schön sein, dachte Lorkowski, ich scheiß’ doch auf den Rhein. Er schiß auf den Rhein, Lorkowski, Abgeordnetenfahrer aus Masuren, Lorkowski, Leichenfahrer aus dem Gefangenenlager, Lorkowski, Sanitätsfahrer von Stalingrad, Lorkowski, NSKKfahrer aus Kraftdurchfreudetagen, alles Scheiße, Leichen Abgeordnete und Verstümmelte dieselbe Ladung, alles Scheiße, er schiß nicht nur auf den Rhein.
„Puppe.“
Der Interessenvertreter verließ den Abort, schlenkerte das Hosenbein, nichts Menschliches war ihm fremd. Er trat zu den anderen Interessenvertretern in den Vorraum des Wagens, ein Mann unter Männern.
„Bißchen blaß ist sie.“
„Macht nichts.“
„Durchgeschüttelt, durchgerüttelt, durchgerollt.“
„Zu lange unten gelegen.“
Wagalaweia.
Das Mädchen kam wehenden Gewandes, Engel des Schienenstranges, ein Nachtengel, wehenden Nachtgewandes, Spitzen streiften den Staub Rotz und Dreck des gefirnißten Ganges, Brustspitzen, pralle Knospen rieben die Gewandspitzen, die Füße trippelten in zierlichen Pantöffelchen, Bändergeschnür, die Füße der Salome die wie kleine weiße Tauben sind, die Zehennägel leuchteten rot, verschlafen war das Kind, launisch, mürrisch, viele Mädchen trugen den Ausdruck des Mürrischen im hübschen Puppengesicht, es war eine Mädchenmode, mürrisch zu sein, im Hals kratzte der Raucherhusten, die Männer sahen zu, wie das Mädchen trippelnd, lackiert, hochbeinig, hübsch und mürrisch auf den Lokus ging. Parfum kitzelte die die Nasen und mischte sich hinter der Tür mit des Interessensvertreters strengem Ablauf am Abend genossener Bockbiere – an ihm war Hopfen und Malz nicht verloren.
„Feinen Koffer haben Sie da. Richtige Diplomatenkiste. Wie neu aus dem AA. Schwarzrotgoldene Streifen.“
„Schwarzrotmostrich, wie wir früher sagten.“
Wagalaweia.
Der Rhein schlängelte sich nun, ein gewundenes, silbernes Band, durch flache Ufer. Fern aus dem Frühdunst wölbten sich Berge. Keetenheuve atmete die milde Luft, und schon spürte er, wie sehr sie ihn traurig stimmte. Verkehrsvereine, Fremdenlockbetriebe nannten das Land die rheinische Riviera. Ein Treibhausklima gedieh im Kessel zwischen den Bergen; die Luft staute sich über dem Strom und seinen Ufern. Villen standen am Wasser, Rosen wurden gezüchtet, die Wohlhabenheit schritt mit der Heckenschere durch den Park, knirschenden Kies unter dem leichten Altersschuh, Keetenheuve würde nie dazu gehören, nie hier ein Haus haben, nie Rosen schneiden, nie die Edelrosen, die Nobiles, die Rosa indica, er dachte an die Wundrose, Erysipelas traumaticum, Gesundbeter waren am Werk, Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus, Keetenheuve sah seltsame Floren, gierige, fleischfressende Pflanzen, Riesenphallen, Schornsteinen gleich voll schwelenden Rauches, blaugrün, rotgelb, giftig, aber es war eine Üppigkeit ohne Mark und Jugend, es war alles morsch, es war alles alt, die Glieder strotzten, aber es war eine Elephantiasis arabum. Besetzt, stand auf der Klinke, und hinter der Tür pinkelte das Mädchen, hübsch und mürrisch, die Schwellen an.“
(Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, Frankfurt am Main 1980, erste Auflage Stuttgart 1953, S. 36–38.)