Tagebuch Samstag, 20. April 2019 – Fast stummes Fuppesgucken

Seit Donnerstagabend habe ich fast komplett die Klappe gehalten, weil ich das Gefühl hatte, dem doofen Zahn täte es gut, wenn mein Mund so wenig tut wie möglich. Eigentlich wollte ich am Donnerstag in „Das Leben des Brian“ sitzen und so in den Karfreitag reinkommen, aber schon beim Vorfilmgetränk merkte ich, das geht heute nicht. Die Portion Pommes, die ich mir zur Apfelschorle bestellt hatte, war vermutlich auch eher eine doofe Idee, aber ich hatte den ganzen Tag nur ein paar Schokoostereier gegessen und war hungrig. Trotzdem haben die fünf Sätze, die ich mit der Tischgesellschaft gewechselt habe, plus die Pommes meinen Zahn wieder dazu gebracht, äußerst unangenehm rumzuzicken, weswegen ich lieber nach Hause ging und Schmerztabletten nachlegte.

Den Freitag verbrachte ich dann stumm auf dem Sofa und bereitete mir abends, wie gestern geschrieben, ein Spargelcremesüppchen zu, das ich erstmal lauwarm werden lassen musste, denn auch heiß und kalt findet meine Zahnruine gerade doof.

Samstag morgen wachte ich wieder mit Schmerzen auf und war nicht nur genervt, sondern auch ein bisschen ängstlich davor, ins Stadion zu gehen. Ein Fußballspiel in Augsburg dauert mit An- und Rückreise nach München immer so um die sechs Stunden, und obwohl ich die Hosentaschen voller Ibu hatte, war ich mir nicht sicher, ob das eine gute Idee sei, hinzufahren. Meine Mitfahrenden versicherten mir aber, ich könne ruhig stumm mit der Nase im Buch neben ihnen sitzen, und es war halt auch ein Spiel, das ich dringend sehen wollte, nämlich gegen den direkten Konkurrenten aus Stuttgart, der gestern auf dem Relegationsplatz 16 stand, dann kam Schalke, dann Augsburg auf 14. Ich war auch nicht die einzige, die auf dieses Spiel gespannt war: Wo die Arena in Augschburg sonst eher nur gegen Bayern und Dortmund ausverkauft ist, war auch dieses Spiel dicht. F. berichtete mit gespielter Entrüstung über die Kartenanfragen, die er seit dem Frankfurt-Spiel am letzten Sonntag bekommen hatte: „Wo wart ihr alle im Februar, als der Verein beschissen gespielt hat und wir gefroren haben, na, NA?!?“

Gestern hatte neben Augsburg auch der FC Bayern ein Heimspiel; während ich im FCA-Trikot am Hauptbahnhof die Rolltreppe hochkam, fuhrend dutzende von Menschen in Bayern-Trikots in die andere Richtung. Unser Zug hatte dann unerwartet Verspätung; wir kamen noch rechtzeitig am Stadion an, aber ich verpasste den Kaschperl und hörte mir daher erst für diesen Blogeintrag an, dass die gute Holznase auf einen 3:0-Heimsieg getippt hatte. Im Stadion wäre mir das ungehörig optimistisch vorgekommen, ich hatte mich auf einen dreckigen Abstiegskampf eingestellt und hoffte auf ein 1:0.

Durch die Verspätung gab’s auch für F. keine traditionelle Stadionwurst, bei der ich per DM gescherzt hatte, dass er mir die halt vorkauen müsste. Ich schaffte es immerhin noch, auf dem Klo Sonnencreme nachzulegen und eine Ibu reinzuwerfen, und dann ging’s mir eigentlich recht gut. Die Stadionhymne sang ich nicht mit, während der Kids Club seine Runde drehte, ich brüllte keine Mannschaftsaufstellung mit, und erst gestern merkte ich, wie sehr mir das fehlt. Man hat als Zuschauerin ja doch recht wenig zu tun bei einem Spiel, und jetzt konnte ich nicht mal das erledigen. Okay, den Teil in der Hymne nach „Denn wir sind Augsburger“, bei dem man sich zum Gästeblock wendet und in deren Richtung „und ihr nicht!“ brüllt, habe ich mir nicht nehmen lassen. Tat auch gar nicht weh!

Der Dauerkarten-Sitzplatz links neben mir ist anscheinend inzwischen in den freien Verkauf gegangen. F. meinte, zunächst hätte dort ein junges Pärchen gesessen, dann wäre sie schwanger geworden, dann sei er irgendwann mit einem Kumpel gekommen, dann alleine, und seit ich ins Stadion gehe, sitzt dort vermutlich der Opa, jedenfalls hat er immer ein Kleinkind dabei, auf dessen Süßigkeiten ich immer neidisch war. Den habe ich aber schon länger nicht mehr gesehen, meist blieb der Platz im Dauerkartenblock leer, aber seit ein paar Spielen habe ich jedesmal einen anderen Nachbarn. Gestern war es ein kleiner, älterer Mann, der auch brav „Servus“ sagte, als er sich an uns vorbeidrängelte, um zum Sitz zu kommen. Ich grüßte zurück, setzte mich und machte mich darauf gefasst, 90 Minuten lang rumzusitzen und vielleicht einmal jubeln zu können.

Inzwischen wisst ihr ja alle, wie das Spiel ausgegangen ist, daher wisst ihr natürlich auch, dass aus dem Plan nichts wurde und der Kasper ernsthaft zu niedrig getippt hatte. Die Stuttgarter hatten sogar eine schicke Choreo mit den Gästeblock gebracht, aber die half auch nicht. Stuttgart war komplett hilflos und irgendwann sah es fast wie Arbeitsverweigerung aus (meinte auch die Süddeutsche). Die Augsburger Zweikampfstärke war kaum nötig, weil es kaum Zweikämpfe gab, die Jungs marschierten einfach durch die ungeordneten Reihen, selbst die meisten Pässe kamen an, und schon zur Halbzeit stand es unglaubliche 3:0. Ich klatschte jedesmal mit dem Herrn neben mir ab, während wir immer ungläubiger zuguckten, und nach der Halbzeitpause meinte ich so launig, so gut wie das heute läuft, wird das noch ein 6:0, haha. Haha INfuckingDEED!


(Da könnte ich zufällig bei der Entstehung des 4:0 ans obligatorische Stadionfoto gedacht haben.)

Der Spielstand wird in Augsburg nicht nur mit Zahlen auf der elektronischen Anzeige eingeblendet, sondern bei einem Heimtor kommt der Stadionsprecher: „Der Wagner Josef zeigt uns, wie’s steht …“ und dann kommt der übliche Wechselgesang mit dem Publikum: „Augsburg? EINS! [Auswärtsmannschaft?] NUUUULL!“ Dazu gibt’s einen kleinen Videoschnipsel mit eben diesem Josef Wagner, der beim FCA jahrzehntelang händisch die Anzeigentafel an der ehemaligen Spielstätte, der Rosenau, bediente, hier sein Nachruf von 2014. Es wird also keine Zahl eingeblendet, sondern ein Clip, der Wagner zeigt, wie er die 1 oder die 2 oder die bisher höchste Zahl in der Bundesliga, die 4, aufhängte. Und als es plötzlich zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte 6:0 stand, rutschte dem Stadionsprecher das raus: „Der Wagner Josef zeigt uns, wie’s steht … haben wir die Zahl überhaupt?“ Hatten sie. Sehr gelacht.

Der Herr und ich umarmten uns noch jubeltrunkend zum Abschied und er meinte: „Auf dem Platz funktioniert’s, den nehm ich jetzt öfter!“ Immer gern.

So ganz stumm konnte ich bei einem 6:0 dann doch nicht bleiben, wenigstens den Namen des Herrn, dessen Trikot ich trug, brüllte ich zweimal nach seinen Toren mit. Ich war auch nicht die einzige, die eher ruhig blieb: Die Gästefans hatten nach der desolaten Leistung von Stuttgart schon in der Halbzeit die Nase voll, die Kurve war nur noch halbgefüllt, und auch die danebenliegenden Sitzplätze waren fast leer. Dass die Mannschaft nach dem Spiel überhaupt noch in die Kurve ging, hätte ich nicht gedacht. Nebenbei: Weil es so früh 3:0 stand, konnte ich ab und zu mal den Blick von den Augsburgern wenden und ein bisschen wehmütig Schnuckigucken, denn bei Stuttgart spielt ja der Herr Gomez seine vermutlich letzte oder vorletzte Saison. Ich muss gestehen, ich gucke ihm immer noch gerne zu, ich mag seine körperliche Schwere und Präsenz im Vergleich zu den ganzen hibbeligen, leichtfüßigen Youngstern, aber genau das dürfte so langsam seinen Abschied einläuten.

Nach dem Spiel wurde Marco Richter, ebenfalls zweifacher Torschütze, auf den Zaun gerufen und hatte anscheinend zum ersten Mal das Megaphon in der Hand, so ganz flott ging der Wechselgesang noch nicht, aber egal, gute Laune allenthalben, ebenso gute Laune auf der Rückfahrt, ich las wieder stumm vor mich hin, die anderen beiden aber auch, und als wir wieder am Hauptbahnhof in München waren und zur U-Bahn gingen, kamen uns mehrere Bayernfans entgegen, deren Mannschaft auch gewonnen hatte, und meinten grinsend zu uns: „Da kommen die Matchwinner!“ Das war nett. Der FCB musste bis zur 75. Minute bis zum 1:0 warten, weswegen die Sitznachbarin von F., der ja auch eine FCB-Dauerkarte hat, ihm in der Halbzeit eine SMS geschickt hatte: „Du kommst jetzt sofort aus Augsburg nach Fröttmaning und bringst die Tore mit!“

Eigentlich wollten F. und ich gestern abend ein winziges Festmahl zu uns nehmen und mir ging es auch etwas besser – F. so: „Adrenalin hilft ja bekanntlich auch gegen Zahnschmerzen“ –, aber ich war brav, ging stumm und allein nach Hause und kochte mir ein kleines Lauch-Kartoffelsüppchen, das ich – natürlich – lauwarm verspeiste und mir dabei sehr alt vorkam. Ich guckte noch „Alle Spiele, alle Tore“ sowie das „Aktuelle Sportstudio“, um die Tore nochmal zu sehen und das war schon sehr schön.

Mit Buch ins Bett, und heute tut der Zahn auch wirklich weniger weh! Danke, Augsburg. Im wahrsten Sinne des Wortes well played.