Tagebuch Freitag bis Montag, 17. bis 20. Mai 2019 – Krankenbesuch

Der Starbucks-Barista am Münchner Hauptbahnhof goss mir ein Herzchen auf den Irgendwas Latte, obwohl noch ein Deckel auf den Becher kam.

Im Zug entdeckte ich den geschätzten Herrn Doktorvater in einer Fußnote der hervorragenden Speer-Biografie von Magnus Brechtken. War ja klar.

Das Buch möchte ich euch dringend ans Herz legen. Keine Angst vor der Dicke des Werks: Von den 900 Seiten sind 300 Fußnoten, Quellen- und Literaturangaben; mein babywissenschaftliches Herz lacht. Die restlichen 600 Seiten reißt man runter wie geschnitten Brot: stets informativ und mit 1000 Quellen unterfüttert, aber immer sehr gut lesbar und verständlich. Ich habe viel gelernt, nicht nur über das „Dritte Reich“ und einen weiteren Bereich, der in die Kunst desselben hineinreicht, sondern noch mehr über die junge Bundesrepublik und ihren Umgang mit der Vergangenheit. Auch wenn euch Architektur nicht die Bohne interessiert – lest einfach mal rein.

Ich sitze seit ein paar Wochen in der Vorlesung von Herrn Brechtken und kann daher berichten: Der Mann schreibt wie er spricht und umgekehrt. Toll.

Als Profinutzerin von öffentlichen Verkehrsmitteln hatte ich natürlich noch ein weiteres Buch im Gepäck, als ich irgendwo zwischen Kassel und Göttingen mit dem Speer durch war. Jetzt lese ich gerade »Wehvolles Erbe«: Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann. Die Einleitung war etwas zäh, ich hoffe, es geht flüssiger weiter. Und mit weniger latent zweideutigen Sätzen: Wenn Vaget von der „ästhetischen Kluft“ zwischen Hitler und der Partei schreibt, habe ich sofort wieder die Theorie im Kopf, dass Hitler eigentlich ein Einzeltäter war und das ganze deutsche Volk fies getäuscht wurde. Was natürlich Blödsinn ist. An dieser hübschen Entschuldigung hat Speer übrigens auch einen nicht kleinen Anteil.

Auf der S-Bahn-Fahrt von Hannover in die alte Heimat wie immer geguckt, wo früher der Bahnhof im Wohnort der Großeltern war, der für die S-Bahn verlegt wurde. Ich finde die Stelle nicht mehr wieder.

In Krankenhäusern werden auch Glücksschweine beschriftet.

Mein Vater erkennt uns alle.

Die blöden Zahnschmerzen waren wieder da, nachdem sie immerhin einen Tag weg waren (Montag). Ob ich Ibu nehme oder nicht, scheint inzwischen egal zu sein. Samstag abend nötigte mich das Mütterlein, den Notdienst anzurufen, obwohl ich die am Freitag getestete Methode (Ibu plus Rotwein!) vorgezogen hätte. Weil sich der Zahn anscheinend einfach nicht beruhigen will, hatte ich in letzter Zeit des Öfteren mein Lieblingszitat aus Im Dutzend billiger im Ohr: „Reißt mir das Zeug mit einem stumpfen Schuhlöffel raus!“ Im Originalzitat geht es um die Mandeln der Kinder, die sich anstellen, und der Vater möchte zeigen, wie mannhaft man das alles aushalten kann, wenn ich mich richtig erinnere.

Der Notzahnarzt machte das, was in der letzten Zeit mehrere Ärzte gemacht haben: röntgen, irgendwas murmeln, das inzwischen mit einem Bluterguss versehene Zahnfleisch ärgern, um mir eine Spritze zu geben, am Zahn rumwursteln, Antibiotika verschreiben, gute Besserung wünschen. Damit kann ich ja leben, wenn auch sehr genervt.

(Einschub: Wer Zahnärzte oder die Behandlungen echt nicht abkann, sollte jetzt bis zu den nächsten Spiegelstrichen springen und sich was Schönes vorstellen.)

Samstag kam nämlich plötzlich eine Attacke auf die Entzündung unter dem Scheißzahn, auf die ich seelisch nicht vorbereitet gewesen war. Der Arzt meinte, er spüle das mal durch, und dann fuhr er vermutlich mit einer winzigen Spritze in meine Zahnfleischtaschen, die sich aber anfühlte wie eine glühende Mistgabel. Die Arzthelferin gab mir ihre Hand zum Festhalten, was ein bisschen geholfen hat, aber sobald das vorbei war, heulte ich los, weil es so scheiße verfickt nochmal dreckswehgetan hatte, und durfte danach kurz zu Atem kommen. Ich kriegte noch ein Rezept, glaube ich, dann wankte ich zur Tür, wo mein Mütterchen wartete, die mich hingefahren hatte, denn auf dem Dorf geht ohne Auto ja nichts.

Im Auto löste sich dann der Schock und ich gab tiefe, ursprüngliche Schmerzenslaute von mir, von denen ich nicht geahnt hatte, dass sie in mir waren bzw. ich sie produzieren kann. Als ich wieder denken konnte, wuchs meine Hochachtung vor gebärenden Frauen ins Unermessliche. Achtung, Dünnes-Eis-Vergleich: Ich ahne, wie Frauen nach einem Kind noch weitere in die Welt setzen können. Samstag war ich der Meinung, das seien die schlimmsten Schmerzen gewesen, die ich je gehabt hatte, Sonntag fehlten mir schon die Worte, um sie F. zu beschreiben. Ich kann mich netterweise auch nicht an den Bandscheibenvorfall von 2001 erinnern.

Zurück zum Fun Saturday: Das Mütterchen holte die Medikamente aus der Notapotheke, während ich im Auto wieder zu Atem kam, fuhr mich nach Hause, setzte mich an den Küchentisch, gab mir was zum Kühlen und tätschelte mir eine halbe Stunde lang den Rücken, dann ging’s wieder. Ich hatte aus der Apotheke ein paar Codein-Tabletten für die Nacht gehabt, aber vor dem Zeug habe ich zuviel Respekt, lauschte also eine weitere Nacht dem Pochen unter dem Backenzahn, schlief aber irgendwann ein.

Und seitdem bin ich schmerzfrei und der Zahn fühlt sich auch nicht mehr zu hoch an so wie in den letzten Tagen, als die Entzündung das Ding ernsthaft nach oben gedrückt hatte. Sagt zumindest mein Zahnarzt, der eigentlich bisher einen richtig guten Job gemacht hat, aber dieses Mal irgendwie nicht klarkommt. Ich würde mich freuen, wenn das mit dem „schmerzfrei“ jetzt so bliebe.

(STUMPFER SCHUHLÖFFEL!)

Hallo, Zahnarztphobiker*innen, wir reden jetzt wieder über flauschiges Zeug. Okay, eigentlich über Ex-flauschiges Zeug.

Grumpy Cat hat einen Nachruf in der New York Times bekommen. Miss you already, kleine Meckerschnute. We had fun once. It was awful.

Samstag gab’s auch noch Fußball. Sollte eigentlich egal sein bei den derzeitigen Umständen, war’s mir aber dann doch nicht. Ich habe den ganzen Winter lang Scheißspiele geguckt und gefroren und geflucht, dann will ich jetzt auch den letzten Spieltag sehen. Da meine Eltern kein Internet haben, durfte ich bei meiner Schwester auf dem Sofa den Laptop aufklappen. Ich verabschiedete mich innerlich von Franck Ribéry, wegen dem ich Bayern-Fan geworden war, rollte die Augen über all die Hass-Tweets – ja, er war ein Mistkerl auf dem Platz, aber er war UNSER Mistkerl – und fluchte mal wieder über Augsburg, die ernsthaft in Wolfsburg einszuacht untergingen. Klassenerhalt ist geschafft, aber meine Güte, ist das peinlich.

Mein Vater hatte in den letzten Tagen Geburtstag. Wir brachten Kaffee und Kuchen mit ins Krankenhaus, aßen und tranken aber dann doch alles alleine in der Besucherecke. Vaddern ließ sich zu ein paar Löffeln Spargel, Pilze und Reis überreden, einer Banane und einem Jogurt. Das Frikassee war das Krankenhausessen, und auf dem Zettel, der unter dem Teller lag, wo Patient und Mahlzeit verzeichnet sind, stand „HAPPY BIRTHDAY!“ Außerdem gab’s ein Stück Extrakuchen in Plastikfolie, von dem die Krankenschwester launig meinte, den hätte sie gebacken.

Papa war auf drei verschiedenen Stationen. Überall äußerst freundliche und geduldige Pfleger*innen, die uns hilflosen Hühnern alle Fragen beantworteten. Heute kommt mein Vater in die Reha und meine Mutter verteilt Trinkgeld im Haus. Ich habe ihr gesagt, dass sie bloß kein Merci mitgeben soll, jedenfalls habe ich Twitter und die ganzen Pflegeblogs so verstanden.

An alle, die sich angesprochen fühlen: Ihr seid großartig. Jedes ruhige Wort und jede Sekunde, die ihr für uns und Papa Zeit hattet, haben geholfen. Danke.

Ein Elternteil gefüttert, das andere bekocht.

Den letzten Abend mit F. bei Schwester und Schwager auf deren Terrasse verbracht, stumm ins dunkler werdende Grün geschaut, Element of Crime gehört. Der Kasten voll krauser Petersilie sah aus wie ein Bonsaigarten. Unerwartet entspannt gewesen und an mein Lindau-Gefühl gedacht. Vielleicht doch an den Stadtrand ziehen und Gemüse anpflanzen.

In meinem Koffer für die Rückreise lagen Dokumente, mit denen ich mich eigentlich noch ein paar Jahre gar nicht befassen wollte, ein halber Hefewürfel (Pizzateigreste vom Freitag) und zwei Kilo Rhabarber aus dem Garten meiner Eltern.

In München Regen, wie sich das gehört. Sag Bescheid, wenn du mich liebst.