Was schön war, Mitte Juli – Sommerferien

Die ganze letzte Woche durfte mein Kopf sich schon ausruhen bis auf die kleine Referat-Insel für die geschätzte Korrekturleserin. Das hat mir viel Freude gemacht, meine Dissertationspläne auszubreiten, Bilder zu zeigen und Dinge gefragt zu werden.

Ansonsten ließ ich Bücher in Bibliotheken liegen, sagte Verabredungen ab, gab Theaterkarten weiter und machte: gar nichts. Außer mich auszuruhen, spazierenzugehen, zu backen, zu kochen und einen kurzen Urlaub auf Lindau am Bodensee für diese Woche zu buchen. Jetzt wo ich wieder in München bin, weiß ich: Ich habe einen viel zu kurzen Urlaub gebucht.

Ich kam bei leichtem Regen an, also genau bei meinem Wetter, rollkofferte ins Hotel und verließ es sofort wieder, um ans Wasser zu rennen, Meer, See, alles egal, hauptsache Wasser. Und so saß ich auf einer nassen Bank unter meinem Schirm, guckte auf den Bodensee und atmete ein und aus und wieder ein und wieder aus und war nach zehn Minuten schon entspannter als alle letzten Wochen zusammen.


Das Wetter wurde schnell wieder besser, ich bummelte und guckte und hatte nichts zu tun außer zu bummeln und zu gucken. Und weil die Lindauer Insel so winzig ist, war ich dauernd wieder am Wasser. Das ist da aber auch echt überall. Ich trank einen Latte Macchiato und eine Johannisbeerschorle, ich Stadtkind, und guckte dabei aufs Wasser. Ich kaufte Wasser und Schokolade im Supermarkt, ging fünf Minuten und guckte aufs Wasser. Ich durchquerte quasi die ganze Insel und guckte danach aufs Wasser. Abends setzte ich mich in das hauseigene Restaurant, verspeiste Schweinemedaillons mit Spätzle (aka „Schwabenteller“), trank ein Helles, ging dann nochmal raus und guckte aufs Wasser. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich den Bodensee mit ins Bett genommen, um auf ihn raufzugucken.

Am nächsten Morgen erfreute mich das Hotelbuffet mit eintausend Müsli- und Cerealsorten und dazu frischen Erdbeeren. Außerdem wurde das Rührei frisch für mich gemacht und der Kaffee kam im Silberkännchen.

Dann begann ich mein Tagwerk: Rumlaufen und aufs Wasser gucken. Zunächst kamen natürlich die beiden Kirchlein dran, die so niedlich im 20-Meter-Abstand parallel nebeneinander stehen. Raten Sie, welche meine evangelische ist. Mpf.


Vor dieser Kirche stand der Hinweis auf die sogenannte Mittagsinsel, eine winzige Andacht mit Gebet und Orgelmusik um 12 Uhr. Das merkte ich mir, musste aber erstmal weiter rumlaufen und aufs Wasser gucken. Dazu wagte ich mich sogar von der Insel runter aufs Festland und fand einen wunderbaren Platz zum Lesen. Und um aufs Wasser zu gucken. Tach, Ente!

Außerdem merkte ich, dass ich unwissentlich einen winzigen Abschnitt des Jakobswegs gegangen war. Wo bekomme ich ein Pilgerbuch, in dem ich das vermerken lassen kann?

Um 12 saß ich wieder in der Kirche und wurde andächtig. Dermaßen gestärkt wagte ich mich in die August-Macke-Ausstellung, die gegenüber der Kirchen im wunderschönen Stadtmuseum lief. Macke ist mir wie die meisten Expressionisten inzwischen ein bisschen egal, ich gucke sie pflichtschuldig, und so blieb ich auch hier nur eine gute halbe Stunde vor den 40 Bildern – ich musste ja auch wieder aufs Wasser gucken –, aber ein paar waren doch dabei, die mir sehr gefielen. Mein liebstes finde ich allen Ernstes weder bei den schönen Unidatenbanken noch bei Google; wenn euch „Gelbe Frau mit Kind“ von 1913 über den Weg läuft oder vor euch vom Laster fällt, schickt mir das Bild doch bitte mal. Ich mochte schon den Titel, und die wenigen, geometrischen bunten Flächen schienen mir klarer, sinnstiftender als das übliche bunte Gewusel. Generell mochte ich in der Ausstellung die Ecke mit den flanierenden Stadtmenschen am liebsten. Vielleicht auch, weil auf der kleinen Insel davon so wenig zu spüren war. Klar, es war alles voller Tourist*innen, aber weil die Altstadt komplett denkmalgeschützt ist, gibt es gefühlt nur fünf Parkplätze und fast nur einspurige Straßen. Das sieht man auf meinen Häuserbildern ganz gut; ab und zu fährt ein Auto an einem vorbei, aber man muss mehr auf Pedelecs achten und auf überall rumstehende Postkartenständer. Auch das war für mich als Großstadtmensch äußerst entspannend.

Und dann war ich abends ein bisschen essen. Nur sieben Gänge mit Kleinkram vorneweg und hintendran und Weinbegleitung und einem Rosé-Champagner als Auftakt, denn wenn es Rosé-Champagner gibt, dann trinke ich den auch.

Als Reinkommer gab’s eine Forelle mit Bärlauch und, ich glaube, Bärlauchknospen. Darüber winzige Gurkenscheibchen, alles spannend süßsauer. Ich fing an, wohlig zu seufzen und hörte den ganzen Abend nicht mehr auf.

Als die überaus freundliche Bedienung mir diesen Teller hinstellte, entfleuchte mir ein „Oh wow“, weil OH SO PRETTY! Gänseleber mit Räucheraal darüber und Rhabarber. Und der Riesling im Glas war das goldigste Gold, das ich je hatte. Schmeckte zunächst nach bitterem Honig und Kieselsteinen, aber mit der Gänseleber zusammen – natürlich – perfekt. Dazu gab’s eine Brioche, die ich kaum anfassen konnte, so hauchzart fluffte sie unter meinen Fingerchen dahin. Aber in der Not schmeckt Gänseleber ja auch ohne Brot.

Zum Hummer mit Gurken-Mandel-Kaltschale gab es einen spanischen Weißen, ich habe mir keine Weine notiert und wollte das auch nicht, aber hier musste ich schnell in mein iPhone die Notiz tippen: „SHERRYKAUGUMMI!“ Ich weiß nicht, ob diese wunderschönen gelben Blüten zwischen den gerösteten Zwiebeln Fenchel sind. Vielleicht stammen sie sogar aus dem hauseigenen Garten; während ich auf die Gänge wartete und nicht im iPad lesen wollte, guckte ich in der Gegend herum und sah manchmal einen Koch im Garten winziges Grünzeug abschneiden.

Der Keta-Lachs kam mit Kalamansi und Ponzu-Sauce, die schon gefühlt einen halben Meter vom Tisch entfernt in meine Richtung duftete. Ich roch diesen Duft noch öfter am Abend, wenn Teller an mir vorbeigetragen wurden. Dazu gab’s eine meiner liebsten Rebsorten, Sauvignon blanc, der erwartungsgemäß frisch und säuerlich war, aber vor dem Lachs einen Kotau machte und nur noch rumschmeichelte. Ich seufzte weiterhin wohlig vor mich hin.

Mein liebster Gang des Abends: Steinbutt mit Zwiebeln und geröstetem Gemüsejus. Wieder einmal hielt ich gefühlt minutenlang die Nase dicht über den Teller, bevor ich anfing zu essen. Meist wollte ich gar nicht, weil alle Teller so wunderschön aussahen! Aber: Sie rochen halt alle gut, und das war ihr Verderben. Dazu gab’s einen Chardonnay, der wie einer meiner Hassrotweine roch, bei denen ich immer an schwefeligen Pferdemist denken muss. Ich notierte mir leicht angeheitert „PFIRSICHPFERD!“ und ließ es mir schmecken.

Lammrücken mit Erbsen und Salzzitronen, dazu den einzigen Rotwein des Abends. Ein Bordeaux, der schmeckte, als ob man auf Kirschkernen rumkaute, die in einem schweren Aschenbecher gelegen haben. Also: Rauch, Tannine, Holz, wenig Frucht. Aber dann kamen das Lamm reingehüpft und die Sauce und die Erbsen und zack, war da die Kirsche. Ich kapiere bis heute nicht, dass ein Rotwein mit Salzzitronen klarkommt, aber kam er natürlich. Ich wollte mehr.

„War das Lamm so recht?“
„Ich kann mich nicht von ihm trennen!“
„Wir machen Ihnen das gerne nochmal!“
*wimmer*
*Service schenkt einfach nochmal Rotwein nach*
*wohligseufz*

Ich ging zwischendurch aufs Klo und stellte danach fest: Das Tantris ist nicht das einzige Lokal, das die Serviette neu faltet, wenn man mal vom Tisch weg ist. Mir wurde natürlich auch der Stuhl zurechtgerückt, der übrigens eine halbe Sitzbank war. Ich habe selten so bequem und auch so angenehm gesessen. Ich saß zwischen Loggia und Innenraum und hatte immer einen leichten Luftzug, um mich herum auf allen Tischen standen kleine Blumengebinde und Kerzen, alles unterschiedlich, aber alles passte. Als ich um 19 Uhr kam, war ich erst der vierte Tisch, der besetzt wurde, aber als ich nach 22 Uhr ging, war der Laden voll. Trotzdem war alles ruhig, und obwohl ich auf kein einziges Wasser gucken konnte außer auf das in meinem Glas, war ich so entspannt wie schon den ganzen Tag über. Alleine essen gehen. Kann man machen. Auch stundenlang. Davor war ich ein bisschen nervös gewesen, auch weil ich F. gerne als Gesprächspartner für Weinnotizen dabei habe. Aber ich merkte immer mehr, wie angenehm das war, nicht alles zu zerreden. Ich konnte mich ganz aufs Essen und die Weine konzentrieren. Irgendwann habe ich zwischen den Gängen auch nicht mehr zur Lektüre gegriffen, sondern saß einfach nur noch da und guckte vor mich hin und das fühlte sich völlig in Ordnung an.

Aber wir waren ja noch nicht fertig. Statt des üblichen kalten Sorbets zum Magenaufräumen vor den Süßspeisen wurde mir ein heißer Tee gereicht. Ich habe mir nicht gemerkt, was das für ein Tee war, aber er war herrlich. Und, kaum zu glauben, ich war wirklich wieder wach.

Deswegen konnte ich auch die Waldheidelbeeren würdigen, die sich unter den Shards, wie ich dauernd bei Masterchef Australia hörte, verbargen. Irgendwo war auch noch, laut Speisekarte, Verbene verbaut – vielleicht war das sogar der Tee. Wie ich lustigerweise gerade vor ein paar Tagen bei Masterchef gelernt hatte, soll das erste Dessert frisch und leicht sein, bevor das letzte Dessert dann seinen großen süßen Auftritt hat. Das hat hier hervorragend geklappt. Eigentlich ist mir Blumenfirlefanz am Teller eher lästig, genau wie Steine, auf denen irgendwas liegt – ich möchte nur Zeug auf dem Teller haben, das ich auch essen kann. Aber hier kam man nicht darum herum, mit dem Handgelenk die kühlen, glatten Blüten zu berühren, wenn man die Beeren löffelte, und das war ein sehr sinnliches Erlebnis.

Und da ist der große süße Auftritt. Kirschsorbet, meine ich mich zu erinnern, Tonkabohnencreme, Schokolade, die kleinen rosa Nupsis waren baiserähnlich, der Turm irritierte mich zunächst als Dekoidee aus den 90ern, aber es war äußerst befriedigend, sich sein dekonstruiertes Dessert nicht vom Teller zusammensammeln zu müssen, sondern einfach mit dem Löffel durch siebzehn Schichten zu schlemmen. Der Kracher war allerdings die Getränkebegleitung: Statt des üblichen Süßweins gab’s einen Shot Kirschlikör – „vom [Hersteller Irgendwas Irgendwer] gleich hier die Straße rauf“ – auf Eis. So möchte ich meine Liköre ab jetzt nur noch trinken.

Dann gab’s noch Mangojogurt oder so als Rauswerfer, konfektähnlichen Kleinkram, einen Espresso, meinen üblichen Nussgeist – das ist quasi die Klammer zum Rosé-Champagner, das muss beides immer sein – und dann war ich so glücklich wie selten. Das Villino hat einen Stern und ich würde ihm gerne noch 50 dazugeben. Ich habe mich äußerst wohlgefühlt, nie irgendwie komisch, so alleine und wie immer bei 28 Grad leicht transpirierend, das Essen war genauso entspannend wie mein ganzer Urlaub und trotzdem hatte jeder Gang eine kleine Ãœberraschung, die mich innerlich freudig aufhorchen ließ, und jeder Wein konnte mich faszinieren. Das war endlich mal eine Kombi, die ich bisher auch nur aus dem Tantris kannte: nicht nur großartiges Essen oder herausfordernde Weine, sondern beides. Ich habe wirklich bei jedem Gang wohlig geseufzt und mich vermutlich total zum Klops gemacht. Das war’s wert. Ganz große Empfehlung.

(Ja, das ist eine Peniswolke. Ja, das ist die offizielle wissenschaftliche Bezeichnung.)

Bis 9 Uhr geschlafen, mich wieder über die Erdbeeren auf dem Buffet und das frische Rührei gefreut. Ganz anderes Kochlevel, aber ähnliches Glückslevel. Gutes Futter halt. F. per DM: „Dass du überhaupt schon wieder was essen kannst!“ Ich zurück: „Ich habe jahrzehntelang trainiert!“

Den Vormittag verbrachte ich mit einem Buch auf meiner am Vortag entdeckten Lieblingsbank bei den Enten im Toskanapark, dann schlenderte ich zu einem der Anbieter für Bootsrundfahrten und ließ mich über den See schippern. Auf Twitter lernte ich, dass man auf dem Bodensee gleichzeitig in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist; die Grenzen hören an Land auf. Europa, du tolles Ding!



Nach einer guten Stunde und einem Eiskaffee an Bord ging es wieder nach Deutschland zurück. Ich bummelte zum achtzigsten Mal durch die historische Altstadt und konnte mich immer noch über jedes bunte Haus freuen, suchte per Smartphone nach einem Laden, der Briefmarken hat, fand ihn, kaufte eine Postkarte für Mama und Papa und ging ins Hotel zurück. Natürlich mit Umweg über den Uferweg. Wasser gucken. Nie langweilig.

Abends saß ich dann wieder bei den Evangelen. Die Kirche hat im vorderen Teil ziemlich lustige Bänke, bei denen man die Rückenlehnen so nach vorne klappen kann, dass man nicht in Richtung Chor, sondern in Richtung Orgel guckt. Sehr praktisch, denn ich war zu einem Orgelkonzert da. Die, ähem, Lichtorgel (ba-dum tss) belustigte mich im stillen Zustand, aber als sich die Lichtfarben veränderten, als auf ihr gespielt wurde, irritierte mich das doch sehr. Ich verstehe zu wenig vom Orgelaufbau, um sagen zu können, ob eine Lichtfarbe einem Register zugeordnet war, und ich konnte auch nicht ausmachen, ob es an irgendwelchen Akkorden lag – irgendwann schaute ich eh nur noch zu Boden, weil es mir dort oben zu bunt war. Obwohl zwischenzeitig mal ein Tableau aus verschiedenen Blau- oder Violetttönen sehr hübsch aussah.

Das Programm selbst war für meinen Geschmack etwas eigenwillig, aber auch hier: Ich habe keine Ahnung von Orgelliteratur. Mehr als Bach und Kirchenlieder kenne ich nicht. Das erste Stück von Walter Glück fand ich fad, das zweite von Oskar Lindberg hingegen sehr reizvoll. Dann kam der vermutlich langweiligste Händel der Welt, ich wusste gar nicht, dass Händel langweilig sein kann, und ich merkte, wie ich immer öfter ans Essen dachte. Als der Satie dann auch sehr melancholisch dahinschlich (und ich im Geiste die Minuten bis zum Küchenschluss meines Hotels runterzählte), ging ich dann doch leise aus der Kirche, warf aber einen Schein in das Sammelkörbchen zur Orgelrestaurierung, wie sich’s gehört, und sprintete in den Biergarten. Dort bestellte ich ein Helles und einen Backhendlsalat, und gerade als ich das Bier ansetzte, erklang aus dem Nachbarhaus ein vielstimmiger Chor. Auch der Rest vom Biergarten horchte auf, aber leider nicht lange genug, um mich wirklich erkennen zu lassen, was die (hörbar mehr) Damen und Herren genau sangen. Ein Lied erkannte ich, aber das war’s dann auch. Jedenfalls saß ich nun wieder genau in dem Zustand da, der mich auf Lindau seit Tagen begleitete, vom ersten Durchatmen an: äußerst entspannt, sehr zufrieden, glücklich, ruhig, gelassen. Und mit Chorbegleitung.

Ich habe wirklich erst hier auf der Insel gemerkt, wie angespannt ich vorher war und wie dringend es nötig war, aufs Wasser zu gucken. Auch das Alleinsein tat sehr gut, und dass ich mich wirklich um nichts kümmern musste, ich musste nur spazierengehen und essen und gucken, und ich hätte auch einfach im Zimmer rumliegen können und es wäre in Ordnung gewesen, niemand will was von mir, ich will von niemandem was, ich mache einfach mal nichts und denke auch ungefähr so viel. Es warteten keine 50 Museen vor der Tür, die mir ein schlechtes Gewissen machen, es wartete nur der See und der ist hoffentlich noch lange da, denn ich möchte jetzt schon wieder zu ihm zurück.

Das war der erste Urlaub, der von mir aus noch länger hätte gehen können. Ich mag mein Zuhause, wo auch immer es ist, ich bin da gerne und ich komme immer gerne dahin zurück, aber ja, der See hat schon sehr gut getan. Wieder was gelernt, ohne dass ich es mal darauf angelegt habe.