Tagebuch Samstag, 1. Juni 2019 – Offene Tabs

Schlecht geschlafen, weil mein Kopf die halbe Nacht an einem Blogeintrag rumformulierte. Den schrieb ich dann als erstes am Samstagmorgen, noch bevor ich einen Kaffee hatte, weil mich manche Dinge einfach so wütend machen.

Was ich im gestrigen Eintrag vermutlich nicht deutlich genug gemacht habe: Derartige Storys – das Annehmen von Opferidentitäten, die gar keine sind – machen es wahren Opfern immer schwerer, Gehör und Glauben zu finden. Jeder Fake sorgt dafür, dass echte Opfer von Gewalt, Traumata, Übergriffen etc. erstmal irgendwie beweisen müssen, dass ihnen wirklich Schlimmes widerfahren ist. Ich kann mich nur wiederholen: Es kotzt mich an.

Der Blogeintrag wurde sehr oft geteilt. Ich hatte den ganzen Tag über mehrere Browsertabs offen, um zu gucken, ob es Kritik oder Ergänzungen gab. Eine Kritik war, dass ich vielleicht zu deutlich „Hab ich ja immer gewusst“ hätte raushängen lassen. Genau das wollte ich nicht: Ich habe es eben nicht schon immer gewusst, ich war genauso faul wie alle anderen, die jetzt sagen, sie hätten auch schon immer geahnt, dass da was nicht stimmt. Deswegen hieß mein Eintrag auch „Was man glauben möchte“. Ich wollte glauben, dass es derart altruistische, engagierte, kluge und freundliche Menschen gibt. Gibt es vermutlich auch. Nur die Person hinter diesem Blog ist vielleicht nicht alles davon.

Nebenbei wünsche ich ihr alle Hilfe, die sie braucht. Auch das ging gestern in meiner Wut unter.

Ich bekam auch diverse Mails. Eine wies mich auf diesen (selbstverfassten) Artikel auf hagalil.com hin: Jewish Disneyland (um 2002, wenn ich das richtig recherchiert habe).

„Es gab Zeiten, da kostete es Anstrengungen, an jüdischer Kultur teilhaben zu können: Jüdische Erziehung, sei es die religiöse, historische oder säkulare Variante war eine Voraussetzung dafür.
Jewish Disneyland ist die Instant-Light-Version, eine Art Mc Donalds. Fatal ist nur, dass diese Mc Donalds-Variante für das 5-Sterne-Edelmenü gehalten wird. Und leichter, als sich mit dem Siddur (Gebetbuch) auszukennen oder Hebräisch zu lernen, um alte Texte im Orginal lesen zu können, ist es allemal. Nach der Schoah hatten viele Juden der 2. Generation gar nicht die Möglichkeit, sich dies anzueignen, weil diejenigen, die das hätten vermitteln können, größtenteils ermordet oder vertrieben worden waren und die Elterngeneration mit dem Leben nach dem Überleben kämpfen musste.

Die Mechanismen des Jewish Disneyland sind Romantisierung, Exotisierung, Folklorisierung und Historisierung des Jüdischen. Als Folge davon wird real Jüdisches unsichtbar (gemacht). Die Fiktionen des Jewish Disneyland werden zunehmend zum Maßstab auch für die Medien und dessen, was dort als “jüdische Kultur” präsentiert wird. Da können reale Juden – soweit sie noch oder wieder vorhanden sind – oft nicht mithalten. Sie werden zur Enttäuschung.“

Klaus Graf schreibt auf archivalia.hypotheses gewohnt klug über die Quellen und Hintergründe zum Fall und zitiert auch ausführlich aus dem Spiegel-Artikel. Nur für den Fall, dass ihr ihn noch nicht selbst gelesen habt.

Nathalie beschreibt, wie es ihr als Leserin nach diesem Tag ging.

Irgendwann lenkte ich mich mit Brotbacken ab; Rezept ist gut, gebe ich in den nächsten Tagen weiter.

Es kommt mir gerade alles so unwichtig vor. Dabei war es für mich persönlich wichtig, gestern gutes Essen zu produzieren und es gemeinsam zu genießen. Trotzdem hatten F. und ich nur ein Gesprächsthema, bevor wir dann einfach schweigend in die Nacht schauten, weil alles gesagt war.