Tagebuch Samstag, 15. Juni 2019 – Kümmelkäse? Echt jetzt, Thomas?

Ausgeschlafen. Balkonkaffee getrunken. Wie Frau Kaltmamsell (geschützt) twitterte: „Resistance was futile.“ Ich so: „I see that now.“

Das ist übrigens kein gegossenes Herz auf dem Kaffee, sondern ein Blob, der annähernd Herzform hat. Darunter ist ein verunglückter Farn.

Deswegen ist es morgens auf dem Balkon für mich so schön: Es ist SCHATTIG! Aber man kann schön weit gucken, und wenn ich Glück habe, ist in der Schule hinter der Baumreihe links von mir (nicht im Bild) gerade Unterricht. Was ich auch erst weiß, seit ich hier wohne: wie praktisch das ist, neben Schulen zu wohnen. Man hört ein paarmal am Tag die Pausenzeiten und damit einhergehend ein irrwitziges Stimmengewirr, aber ansonsten ist es total ruhig. Gerne wieder.

Die zweite Ausstellung für unseren Podcast angeschaut. Dorthin gelangte ich per U-Bahn, weil es auch in ihr schattiger ist als auf dem Rad, aber das bereute ich natürlich nach fünf Sekunden, denn sie war nicht klimatisiert und ich kam schon arg angeschwitzt an der Ausstellungslocation an. Da hätte ich auch radeln können.

Nach der Ausstellung zufrieden nach Hause gefahren und meinen Cold-Brew-Tee abgegossen. Das mache ich seit Tagen – irgendwer hat es mir auf Twitter empfohlen, ich habe leider vergessen wer. Teeblätter in die Kanne und statt mit kochendem oder heißem Wasser einfach kaltes draufgießen, zwei Stunden rumstehen lassen, abgießen, fertig. Schmeckt aromatischer als mit heißem Wasser aufgebrühter Tee, was mich völlig fasziniert. Mein geliebter Bünting-Ostfriesentee hat auf einmal eine zitronige Note, die ich noch nie rausgeschmeckt habe. Der Nilgiri ist äußerst weich und puschelig (fast schon charakterlos), und Earl Grey schmeckt wie immer, nur intensiver. Mehr Sorten habe ich noch nicht getestet, aber ich habe hier noch ein bisschen Zeug rumstehen. Orange-Ingwer, anyone?

Ich nutze dazu übrigens sehr unfeierlich das Wasser direkt aus dem Wasserhahn, nix mit abkochen oder so. Könnte man vermutlich, ist mir aber egal. Ich trinke seit Jahrzehnten Wasser aus dem Hahn anstatt Flaschen zu schleppen, und mir geht’s gut. (Wischt sich mit der dritten Hand den Schweiß von der Stirn.)

Dann auf dem Sofa gelesen. Zunächst ein bisschen in Postkoloniale Theorien, das ich mir aus dem Museumsshop im Haus der Kunst mitgenommen hatte. Die dekorieren da immer recht clever um, es gibt nicht nur die üblichen bunten Bilderbuchkataloge, sondern auch immer diverse theoretische Auseinandersetzungen mit den Themen der jeweils laufenden Ausstellungen. (Die Kunstgeschichte als Brotbelag habe ich übrigens nicht mehr gesehen, die lag letztes Mal noch direkt an der Kasse. Aber vielleicht liegt sie jetzt auch einfach woanders, ich habe nicht nach ihr gesucht.)

Zurück zu den postkolonialen Theorien: Ich bin noch nicht sehr weit, aber schon die anfänglichen Definitionen von Kolonialismus haben mich zum Nachdenken gebracht. Auch noch nie weiter hinterfragt, diesen Begriff, und ob es unterschiedliche Kolonienarten gab. Gab es.

Der Text beginnt mit der historischen Einordnung: „Als Schlüsseldatum für den Beginn der europäischen Expansion nach ‚Übersee‘ wird in der Regel das Jahr 1492 veranschlagt.“ Kolumbus, wisst ihr ja.

„Die ersten Kolonisatoren waren Soldaten, Abenteurer und Wissenschaftler, aber auch von Privatinvestoren unterstützte Geschäftsleute sowie Missionare und Siedler. Staatliche Protektion und Verwaltungsverantwortung für die besetzten und besiedelten Gebiete übernahmen die europäischen Nationalstaaten meist er in einer späteren Phase. Indien beispielsweise wurde erst im Jahre 1858 zur britischen Kolonie. […] Indien war eine ‚Beherrschungskolonie‘ und entsprach damit einem Kolonientyp, der in erster Linie der wirtschaftlichen Ausbeutung, der strategischen Absicherung imperialer Politik sowie nationalem Prestigegewinn diente, doch keine Besiedelung vorsah; ausgeübt wurde die koloniale Herrschaft dabei von temporär aus dem Mutterland entsandten Verwaltungsbeamten sowie von Soldaten und Geschäftsleuten. In der Kolonialismusforschung werden Beherrschungskolonien von ‚Stützpunktkolonien‘ sowie von ‚Siedlungskolonien‘ unterschieden. Stützpunktkolonien wie beispielsweise Hongkong oder Shanghai dienten dieser Einteilung zufolge der indirekten kommerziellen Erschließung eines Hinterlandes bzw. der informellen Kontrolle über formal selbständige Staaten. Siedlungskolonien hingegen hatten vor allem die billige Nutzung von Land und Arbeitskräften zum Ziel – wobei sich hier Kolonien des ‚neuenglischen‘, des ‚afrikanischen‘ und des ‚karibischen‘ Typs unterscheiden lassen. In den nordamerikanischen Kolonien ‚neuenglischen‘ Typs wurde die Ur- oder Erstbevölkerung, die als ökonomisch entbehrlich angesehen wurde, weitgehend verdrängt oder vernichtet; in den Kolonien ‚afrikanischen‘ Typs waren die Kolonisten abhängig von einheimischen Arbeitskräften, in den ‚karibischen‘ Kolonien hingegen basierte die wirtschaftliche Produktion auf Sklaverei, der Ausbeutung dorthin verschleppter Menschen aus Afrika.“

(Ina Kerner: Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg 2012, S. 21/22.)

Kerner weist auch auf den gezielten Einsatz von Gewalt hin: „Besonders drastisch war dies in Nordamerika: Aufgrund eingeschleppter Krankheiten, von Vertreibungen, Kriegen und Hungersnöten verringerte sich dort die Urbevölkerung während der ersten hundert Jahre europäischer Besiedlung um etwa neunzig Prozent.“ (S. 24)

Sie beschreibt danach kurz die Transformationsprozesse, die in den Kolonien (gewaltsam) stattfanden, erwähnt die teils willkürlichen Grenzziehungen, von der Kolonisationsmacht erdachte und meist in ihrer Sprache stattfindende schulische Ausbildung oder auch das bewusste Vorenthalten derselben, politische Entwicklungen, den institutionalisierten Rassismus und auch die Blockbildungen im 20. Jahrhundert vor allem in Afrika, wo westlich-demokratische gegen sozialistische Regimes in Stellung gebracht wurden. Auch die „Leugnung einer vorkolonialen Geschichte, die Unterstellung von Geschichtslosigkeit und mangelnder Zivilisiertheit“ als Rechtfertigung damaliger Kolonialisationsbestrebungen, aber auch heutiger Tourismusklischees werden in einer Reihe von Gründen für noch heute existente politische Probleme erwähnt.

Ich gebe noch zwei sehr kurze, ebenfalls einführende Titel weiter, die ich bisher oft in den Fußnoten gefunden habe und die ich mir mal in der Bibliothek anschauen werde: Jürgen Osterhammel: Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen, München 1995 sowie Andreas Eckert: Kolonialismus, Frankfurt am Main 2006.

Zur Entspannung etwas Thomas Mann aus Doktor Faustus, wobei ich manchmal glaube, dass der Herr uns mit seinen Beschreibungen verarschen will.

„Ferner gedenke ich einer Stallmagd namens Hanne, einer Person mit Schlotterbusen und nackten, ewig mistigen Füßen, mit der der Knabe Adrian aus noch näher zu bezeichnendem Grunde ebenfalls eine nähere Freundschaft unterhielt, und der Verwalterin des Molkereiwesens, Frau Luder, einer haubentragenden Witwe, deren ungewöhnlich würdevoller Gesichtsausdruck zu einem Teil wohl der Verwahrung gegen ihren Namen galt, daneben aber auf die Tatsache zurückzuführen war, daß sie sich auf die Herstellung anerkannt vorzüglicher Kümmelkäse verstand. Sie war es, wenn nicht die Hausfrau selbst, die uns im Kuhstall bewirtete, diesem gütevollen Aufenthalt, wo unter den Strichen der auf dem Melkschemel kauernden Magd, die laue und schäumende, nach dem nutzbaren Tiere duftende Milch für uns in die Gläser rann.“

Ich steig jetzt auf Hafermilch um.

Abends den Podcast aufgenommen und davor mit äthiopischen Spezialitäten verwöhnt worden.

Eigentlich machen wir nach der Aufnahme die angebrochenen Weine leer, aber ich war müde, sehr verschwitzt und wollte nichts mehr trinken. Also ging ich vor F. nach Hause, riss dort alle Fenster auf, aber in dem Moment begann ein Gewitter, woraufhin ich Schisserin lieber unter die Bettdecke kroch. Die Natur ist mir unheimlich. Außer wenn ich mit Käffchen vom Balkon auf sie raufgucken kann.