Links vom Sonntag, 4. August 2019

Die ethische Last journalistischer Arbeit

Carolin Emcke schreibt, warum sie die Enthüllung von Hingsts erfundenen Geschichten richtig findet, denkt aber auch über journalistische Verantwortung nach.

„Als Journalistin nicht zu reflektieren über die Frage, über was es zu schreiben oder nicht zu schreiben gilt, das wäre auch unrecht. So zu tun, als ginge uns dieser Tod nichts an, als forderte er uns nicht alle heraus, das wäre allzu zynisch und bequem. Sie steht ja im Raum, die Frage: Ob es unlauter war, eine Person zu konfrontieren mit ihren Lügen, jemandem die Identität(en) zu entziehen, die sie sich selbst erschaffen hatte – und sie möglicherweise dadurch bedenklich zu destabilisieren. […]

Ich weiß nicht, ob ich die Not des Gegenübers erkannt hätte, ich weiß nicht, ob ich versucht hätte zu helfen, wenn ich sie erkannt hätte. Ich hoffe es. Aber ich weiß, dass ich mich auch in der Verantwortung gegenüber den echten Toten und Überlebenden der Schoah begriffen hätte, deren Geschichte sich niemand aneignen darf, als sei es ein Accessoire. Und ich weiß um alle die antisemitischen Revisionisten, die immer noch und immer wieder versuchen, die Tatsache von Auschwitz zu bestreiten, ich weiß, wie sehr erfundene Opfergeschichten denen nutzen, die allzugern behaupten, die Verbrechen der Nationalsozialisten habe es nie gegeben. Ich weiß, dass die Erinnerung an die Wahrheit und der Widerspruch gegen das Leugnen zu dem gehört, was mir aufgetragen ist.

So furchtbar es ist, es lässt sich beides denken: Auch ich hätte geschrieben über die Täuschungen, weil wir das den Angehörigen der Opfer der Schoah schuldig sind. Und gleichzeitig wünschte ich wie alle anderen, es hätte verhindert werden können, dass ein junger Mensch aus dem Leben geht.“

Warum der SPIEGEL über den Fall Marie Sophie Hingst berichten musste

Martin Doerry erläutert, warum er seinen Artikel und dessen Veröffentlichung immer noch für richtig hält und erwähnt auch seinen Kollegen von der Irish Times.

„Der Berliner Korrespondent der “Irish Times”, Derek Scally, hat Marie Sophie Hingst etwa eine Woche nach der Veröffentlichung aufgesucht und ein anderes Bild von ihr gewonnen. Er zeichnet in seinem Porträt das Bild einer verwirrten, hilflosen Person, die an der jüdischen Familienlegende verzweifelt festhält. Er behauptet, ich hätte übersehen, in welcher katastrophalen psychischen Verfassung Frau Hingst gewesen sei. Was er dabei übersieht, ist die Tatsache, dass Frau Hingst vor der Publikation des Artikels keineswegs verzweifelt und niedergeschlagen war, sondern souverän, kämpferisch und entschlossen. Er ist ihr erst begegnet, als ihre fiktive Identität zusammengebrochen war. Wir haben zwar dieselbe Person getroffen, aber in zwei völlig unterschiedlichen Lebenssituationen.

Scallys Bericht löste in den sozialen Netzwerken ein starkes Echo aus. In vielen Kommentaren wird ihre von ihm kolportierte Aussage, sie habe sich durch den SPIEGEL “wie bei lebendigem Leibe gehäutet” gefühlt, als Beleg seelischer Grausamkeit gesehen. Die Tatsache, dass Marie Sophie Hingst sechs Jahre lang systematisch Lügen über ihre angeblich im Holocaust umgekommenen Vorfahren verbreitet hat – nicht nur in ihrem viel gelesenen und prämierten Blog, sondern auch in öffentlichen Reden vor großem Publikum –, erscheint dagegen häufig als lässliche Sünde oder wird gar nicht thematisiert.“

Athleisure, barre and kale: the tyranny of the ideal woman

Ein mäandernder, aber genau in dieser Flaniererei guter Artikel von Jia Tolentino, der aber die Grundtendenz der modernen Frau in welcher Ausprägung auch immer gut zusammenfasst: Wir optimieren uns, um in einem System mitzuspielen, das uns gar nicht mitspielen lassen will.

Sie beginnt mit dem Feminismus in seiner weichgespülten Form, der uns Dinge verkaufen will:

„Today’s ideal woman is of a type that coexists easily with feminism in its current market-friendly and mainstream form. This sort of feminism has organized itself around being as visible and appealing to as many people as possible; it has greatly over-valorized women’s individual success. Feminism has not eradicated the tyranny of the ideal woman but, rather, has entrenched it and made it trickier. These days, it is perhaps even more psychologically seamless than ever for an ordinary woman to spend her life walking toward the idealized mirage of her own self-image. She can believe – reasonably enough, and with the full encouragement of feminism – that she herself is the architect of the exquisite, constant and often pleasurable type of power that this image holds over her time, her money, her decisions, her selfhood and her soul.

Figuring out how to “get better” at being a woman is a ridiculous and often amoral project – a subset of the larger, equally ridiculous, equally amoral project of learning to get better at life under accelerated capitalism. In these pursuits, most pleasures end up being traps, and every public-facing demand escalates in perpetuity. Satisfaction remains, under the terms of the system, necessarily out of reach.“

Dann schreibt sie über Lunch Breaks, in denen wir teure Salate bei Vapiano und Co. essen, um möglichst schnell wieder ins Hamsterrad zu kommen, am besten, während man noch mal schnell die Arbeitsmail checkt. Für psychologischen Ausgleich durch Sport betreibt Tolentino Barre, ein Sport, bei dem es eher darum geht, gut auszusehen als stark zu werden. Und das alles in athleisure, ein Kleidungskonzept, das uns in der Freizeit aussehen lässt wie beim Sport. Jedenfalls einige von uns:

„Spandex – the material in both Spanx and expensive leggings – was invented during the second world war, when the military was trying to develop new parachute fabrics. It is uniquely flexible, resilient and strong. It feels comforting to wear high-quality spandex, but this sense of reassurance is paired with an undercurrent of demand. Shapewear controls the body under clothing; athleisure broadcasts your commitment to controlling your body through working out. And to even get into a pair of Lululemons, you have to have a disciplined-looking body. (The founder of the company once said that “certain women” aren’t meant to wear his brand.) “Self-exposure and self-policing meet in a feedback loop,” Weigel wrote. “Because these pants only ‘work’ on a certain kind of body, wearing them reminds you to go out and get that body.”

Und sie schließt mit einer deprimierenden Feststellung für alle Beauty-Bloggerinnen und Influencerinnen da draußen, die vermutlich zu beschäftigt sind, um dieses Essay zu lesen:

„The realm of what is possible for women has been exponentially expanding in all beauty-related capacities – think of the extended Kardashian experiments in body modification, or the young models whose plastic surgeons have given them entirely new faces – and remained stagnant in many other ways. We have not “optimized” our wages, our childcare system, our political representation; we still hardly even think of parity as realistic in those arenas, let alone anything approaching perfection. We have maximized our capacity as market assets. That’s all.“

Wenn Sie beim Lesen ein bisschen Musik hören wollen – oder einfach nur so Musik hören wollen –, empfehle ich die 5. Sinfonie (1946) von Bohuslav Martinů. Schon viel zu lange keinen Martinů mehr gepluggt. Dauert auch nur ne halbe Stunde.