Der fahrende Ritter von der traurigen Gestalt und ich

Meine Omi, also die Mutter meiner Mutter, hatte noch zwei Geschwister. Ihr einziger Bruder war Onkel Alfred, den ich nur als „den Schmied“ kannte. Bei meinen Eltern stehen bis heute diverse Kerzenhalter und Blumenständer aus schweren Metallen, wuchtig und dunkel; außerdem hängen einige schwarze, ornamentierte Ofenplatten an den Wänden. Dann gab es noch wenige filigrane Gegenstände, und der filigranste stand auf dem Kaminsims, wo ich ihn als Kind ewig anschaute, weil er mir so gut gefiel. Als ich auszog, blieb er dort, aber als meine Eltern aus dem Kamin einen Kachelofen machten, brauchte er einen neuen Platz, und ich nahm ihn freudig mit nach Hamburg.

Bei meinem Umzug nach München nahm ich zunächst nur das Notwendigste mit (ein Sofa, das Teeservice von Omi, alle Bücher), und erst beim zweiten Schwung packte ich wirklich alles ein. Davon passte aber nicht alles in meine damals noch winzige Wohnung, und so wanderte auch die kleine Skulptur von Onkel Alfred erstmal in eine Umzugskiste, die mit 20 anderen auf den Dachboden meiner Eltern kam. Als ich vor zwei Wochen wieder bei meinen Eltern war, hatte ich eine blaue Ikeatüte im Koffer; ich durchwühlte meine Kisten und suchte meinen geliebten Standmixer sowie meine Eismaschine, die ich darin nach München tragen wollte. Den Mixer fand ich nicht, aber die Eismaschine. Und in dieser Kiste auch meinen Don Quijote, der jetzt endlich in Bayern angekommen ist.

Ich habe keine Ahnung, warum ich das Ding so mag – vielleicht einfach, weil ich seit der Kindheit davon fasziniert bin, dass man aus Hufnägeln, einem Scharnier und Schrauben eine Person erschaffen kann. Beziehungsweise, viel wichtiger: eine Person, die ein Buch liest.

Ich mag die Farbigkeit, die der dürre Herr inzwischen angenommen hat: grüne Patina, eingedunkeltes Metall, goldene Details.

Und ich liebe sein Schwert und seine Schuhe.


Ich weiß nicht mehr, ob ich zunächst die kleine Skulptur kannte oder dieses riesige, wild bebilderte Kinderbuch von 1977:

Das las ich nämlich sehr gerne. Wobei: Ich glaube, ich mochte damals die Bilder lieber als die Geschichte. Hier sehen wir, wie die fiese unverständige Umgebung die Ritterbücher des Herrn vernichten will, damit er sich nicht weiter in den Erzählungen verlieren kann. (WAS IST DARAN FALSCH, IHR NARREN?)

Dem Mann geht’s doch gut, alles prima, weitergehen. Ähem.

Wer Don Quijote sagt, muss auch Windmühlen sagen.

Das Buch stammt aus Rumänien. Die kindgerechte Nacherzählung schrieb Alexandru Alexianu (Übersetzung von Lotte Berg), die wunderschönen Bilder sind von Val Munteanu, und ich ahne, dass das ein Geschenk der DDR-Verwandten war. Wie ich beim Googeln nach den Namen feststellte, habe ich das Buch im Oktober 2010 schon mal im Blog erwähnt. Damals lag die Erwachsenenausgabe noch auf der ewigen Leseliste.

Bereits im November 2010 wagte ich mich dann an die Übersetzung von Ludwig Braunfels – und schaffte laut Blogeintrag immerhin fast die Hälfte, bevor mir die Sprache des 19. Jahrhunderts auf den Zeiger ging:

„Ich hab’s versucht. Und ich habe knapp 400 der 1.000 Seiten mit wenigen Hängern auch gerne gelesen, aber dann hat’s mir gereicht. Die Grundgeschichte kennt hoffentlich jede_r: Don Quijote ist ein kleiner Adliger, der nichts lieber tut als Ritterbücher zu lesen. Er wird darüber verrückt und bildet sich nun ein, selbst ein Ritter zu sein. Sein altes Pferd wird Rosinante getauft, eine Bäuerin aus dem Nachbardorf wird in seinem Kopf zu Dulcinea, der schönsten aller Schönen und seine Herrin, für die er auszieht, um Abenteuer zu erleben, und ein Bauer namens Sancho Pansa fällt auf sein Geschwafel von Reichtum, Gold und Glück herein und folgt ihm mit seinem Esel. Beim Lesen der Windmühlengeschichte, die sehr früh im Buch kommt, musste ich das gleiche denken wie bei der Madeleine-Episode bei Proust, die auch auf den ersten, na, 50 Seiten von 5.000 kommt: Bis hierhin haben’s alle gelesen, und dann hat’s jede_r weggelegt.“

Schon im Dezember 2010 las ich die zu Recht vielgelobte Neuübersetzung von Susanne Lange und war begeistert:

„Letzten Monat hatte ich den Herrn Cervantes auch schon in der Mangel, allerdings in der Übersetzung von Ludwig Braunfels, und die hat schon über 100 Jahre auf dem Buckel. So liest sich das dann auch. 2008 hat Susanne Lange das Mammutwerk nochmal übersetzt, und das hat mich wirklich begeistert. Ich kann kein Wort Spanisch und deswegen überhaupt nicht sagen, wie gut oder schlecht sie das Original übertragen hat. Ich kann allerdings sagen, dass die Sprache immer noch „alt“ klingt, sich aber nicht mehr so liest. Gerade Don Quijote klingt immer ein bisschen verschrobener und stilblütiger als zum Beispiel Sancho Panza (der wird hier mit Z geschrieben, genau wie Rozinante, den ich auch vorher immer mit S kannte – und von dem ich immer dachte, er wäre eine sie). Andere Figuren klingen wieder anders, vernünftiger, nicht ganz so geistig umnachtet oder einfältig wie der Ritter und sein Knappe. Außerdem ist der Anhang ein steter Quell der Freude, denn er erklärt so ziemlich jede Anspielung und kulturelle Referenz, die den spanischen Leser_innen von 1604 total geläufig waren, mit denen ich jetzt aber gerade nichts anfangen kann.“

Die beiden Bände las ich komplett. Und 2012 kam noch die Fassung von Flix dazu, die den Ritter in die Neuzeit versetzt:

„Fühlt sich an wie ein neuer Flix: Die knuffigen Grundformen seiner Figuren sind noch da, aber alles scheint mit einem Hauch Franquin überzogen zu sein – was mir persönlich sehr gut gefällt.

Wie schon beim Faust versetzt Flix einen literarischen Helden nicht nur in die Wirklichkeit, sondern auch in die Neuzeit, und das hat wieder genauso gut funktioniert. Was sogar noch besser funktioniert hat – deswegen auch der „neue“ Flix: Es ist nicht mehr ganz so brüllend komisch wie sein Tagebuch oder auch der Faust, in dem so ziemlich jede Serie an Panels mit einer Pointe aufhörte. Im Don Quijote hat er es geschafft, den melancholischen, poetischen, zärtlichen Ton des Originals mitzunehmen, ohne den Flix’schen Humor zu vergessen – er ist stattdessen eine Nuance runtergedreht, ein winziges bisschen weniger auf die Zwölf. Wobei auch Cervantes gerne mal die Humorholzhammer rausholte; die Szene, an die ich mich am deutlichsten erinnere, ist die, in der erst Don den armen Sancho ankotzt und dieser dann ihn. Die Szene hat Flix netterweise auch übernommen, wie natürlich auch die Windmühlen (hier: Windräder), Rozinante (ein Fahrrad statt eines Pferds), Dulcinea (da verrate ich mal nichts, aber ich erwähne gerne, dass ich ein paar kleine Tränchen vergossen habe) und natürlich Sancho, der sich, genau wie im Original, zum Ritter ausbilden lassen will. Auch wenn der Flix’sche Sancho einen anderen Ritter im Kopf hat als Cervantes.

Kurz gesagt: Wie immer bei Flix ein wundervolles Buch. Nur noch wundervoller.“

Es ist mir noch nie wirklich aufgefallen, wie lange diese literarische Figur mich schon begleitet, und ich schleppe das Kinderbuch auch von Wohnung zu Wohnung und gucke jahrelang nicht rein, aber es muss halt im Regal sein. Ich freue mich sehr, dass auch die Skulptur jetzt wieder bei mir ist.