Tagebuch Dienstag, 10. September 2019 – Umschichten
Den ganzen Tag in der Diss verbracht. Über neue Strukturen nachgedacht, die der neuen Frage entsprechen. Ich kann die meisten meiner bisherigen Kapitel so lassen, muss sie aber natürlich nochmal durchkämmen, um jeden Absatz auf seinen Fokus zu überprüfen. Das ist aber eher der zehnte Job auf meiner neuen To-do-Liste. Ganz oben steht eben die neue Struktur.
Gestern dachte ich über zwei nach, beschrieb sie mir schriftlich selber – danke für den Tipp, @cfahrenbach per DM –, ging ganz grob über die Einleitung und stellte erfreut fest, dass die auch zum größten Teil noch passt. Nur eben die ganz genaue Zielrichtung, die wackelt noch ein bisschen hin und her, weil sie mir selbst noch nicht hundertprozentig klar ist.
Daher ließ ich die beiden vielversprechendsten neuen Routen nach ewigem Rumdenken liegen und werde heute erneut drüberlesen. Stattdessen begann ich nun endlich mit dem Autobahnkapitel, bei dem ich im Nachhinein doch ganz froh bin, dass ich mich so ewig darum herumgedrückt habe und mir lieber über Fresken in Münchner Vororten oder Gemälde auf Schiffen Gedanken gemacht habe. Denn jetzt konnte ich es ganz neu aufbauen und auch gleich damit beginnen. Ist auch noch etwas wuseliger als es mir lieb ist, aber ich schreibe das jetzt runter, dann habe ich wenigstens alle Fakten, Quellen, Ausstellungen und Akteure mal zu Papier gebracht – und kann sie im Notfall halt wieder woanders hinschieben.
—
Abends ewig mit Hamburch telefoniert. Viel Tee genossen. Immer noch emotional verkatert vom Montag gewesen. Mit einer Diss-These zu brechen, ist ein bisschen so als ob jemand mit einem Schluss macht. Nur dass mal nicht so viel Alkohol trinken darf, weil man dann noch schlechter denken kann.
Ich wäre dann jetzt aber oktoberfestreif.
—
Auf B5 aktuell, dem Radiosender, der bei mir immer im Bad läuft, ist heute die Pflege Thema des Tages. Eben hörte ich diese acht Minuten, die ich sehr sinnvoll fand.
—
Kluges Interview mit der ehemaligen Spitzensportlerin und heutigen Autorin, deren neues Buch Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass ich nach einer FAZ-Rezension dringend lesen möchte.
„Wie kommt Ihnen das vor bei allem, was Sie persönlich erfahren haben, wenn nun die AfD suggeriert, die deutsche Gegenwart sei wie die DDR?
Das ist doch das Erstaunlichste, dass Menschen, die die DDR erlebt haben, diese Differenz von vor 89 und nach 89 nicht machen. Dass es kein Gefühl dafür gibt, was es heisst, öffentlich zu sprechen, oder was freie Wahlen sind, was es heisst, als Person Rechte zu haben. Was war denn 89? Die DDR ein komplett marodes Land, die Städte, die Seelen kaputt, die Menschen mit ihren Diktaturerfahrungen alleingelassen. Man muss überhaupt nicht wegerzählen, dass mit 1989 allen viel abverlangt wurde. Aber was haben wir heute? Die Arbeitslosenzahlen im Osten sind so niedrig wie nie, die Renten im Grunde angeglichen, die Städte saniert. Das heisst, die Zahlen sind bestens, aber die Stimmung ist obermies. Immer öfter höre ich heute: Sag mal, hast du das immer noch nicht kapiert, wir leben doch längst in der dritten Diktatur.
Wie konnte diese Stimmung entstehen?
Wir hatten im Osten nach dem Zweiten Weltkrieg keine Amerikaner und keine Reeducation. Bei uns folgten 40 Jahre DDR. Eine Gesellschaft, die wie im Käfig lebte oder, etwas freundlicher gesagt, im Einschluss. Alles Leben, alle Zugriffe gingen vor allem nach innen. Das hat noch immer grossen Einfluss auf die Binnenpsyche des Ostens. In meiner Wahrnehmung hat der sich nicht von seinem Kaspar-Hauser-Syndrom erholt. Wie auch? Gleichzeitig kommen wir mit der historischen Einordnung des Ostens und seiner speziellen Brutalität nicht wirklich voran. Stattdessen leisten wir uns verschiedene Entlastungserzählungen. Erst war es die glückliche Einheit, dann kam die DDR als schönes Märchenland, ab 2015 wurde es das Land der Gedemütigten, nun sind wir bei der Kolonisierung des Ostens durch den Westen. Wir strudeln zwischen Trauma und Mythologisierung, was im Kern vor allem mit Ängsten, Nichtwahrnehmung, tiefer Frustration und noch immer mit viel Schmerz zu tun hat. Und mit der Lust an der Camouflage. Diktaturen sind immer auch Entlastungen.“