Tagebuch Mittwoch/Donnerstag, 11./12. September 2019 – Mukschichgut

Der Mittwoch war ein ziemlicher Totalausfall, was die geistige Leistung anging. Ich wuselte ein bisschen in der Diss und meinem Berg an Autobahnlektüre herum, brachte aber vermutlich nur zwei gute Sätze zu Papier, haderte mal wieder, sorry, es wird langweilig, mit der Struktur, aber dieses Mal immerhin nur mit der im Autobahnkapitel. Es lief die ganze Zeit die Klassik-für-jeden-Tag-Liste, die zwar überwiegend aus Greatest Hits besteht, wo ich aber doch zwischendurch noch Dinge entdecke, die mir neu sind. So lernte ich Josef Suk kennen, dessen Adagio in der Serenade für Streicher ich noch nicht kannte, und beschloss, jetzt mal die ganze tschechische Klassik des 19. Jahrhunderts durchzuhören – es gibt da ja anscheinend kaum jemand, dessen Arbeit mir nicht gefällt. (Bohuslav Martinů, Antonín Dvořák, Bedřich Smetana.)

Abends kam immerhin F. vorbei, das rettet ja viel. Wir lungerten nebeneinander auf dem Sofa herum, ich las drei Ausgaben der FAZ nach, er sein derzeitiges Buch, das ziemlich spannend klingt: Zeitenwende 1979: Als die Welt von heute begann.

Gestern saß ich den halben Tag in der Stabi, wo ich einen Berg Bücher aus meinem Lesesaalfach zerrte. Bin ich eigentlich seit sieben Jahren blind oder gibt es dort wirklich keine Körbe, in denen man seine Beute unterbringen kann, anstatt den heiligen Laptop hilflos auf einem wackeligen Stapel Bücher zu balancieren, den man vor seinem Bauch rumtragen muss, bis man einen Platz gefunden hat? Oder sind die immer schon weg, wenn ich um 9 komme?

Jedenfalls vertiefte ich mich in die Themen Baustellen und Landschaftsgestaltung; ja, ich war etwas abseitig unterwegs, aber das macht das wissenschaftliche Arbeiten ja so spannend. Ich las wie immer äußerst anstrengende Primärquellen voller Nazigewäsch und fragte mich zum hundertsten Mal, wie die Damen und Herren es damals hinbekommen haben, diesen ganzen unmenschlichen Rotz so von sich und ihrem eigenen, kleinen bürgerlichen Leben, vermutlich mit feinem Teeservice, gebügelter Unterwäsche und Veilchensträußchen für die Angebetete, wegzudiskutieren. Wie man es geistig hinbekommt, das alles vor sich zu rechtfertigen, den Angriffskrieg, die Massenmorde, alles unter der Prämisse, naja, aber die Deutschen müssen ja irgendwo wohnen. Herrgottfuckingnocheins. Wenn ich nicht in einer öffentlichen Bibliothek gesessen hätte, hätte ich wieder Bücher anschreien müssen.

Im Zuge dessen musste ich wieder an die geplante Landschaftsveränderungen in den eroberten Ostgebieten denken, wo das Deutsche Reich dafür sorgen wollte, dass Polen wie das Rheinland aussieht (erfundenes Beispiel): „Die Räume müssen […] ein unserer Wesensart entsprechendes Gepräge erhalten, damit der germanisch-deutsche Mensch sich heimisch fühlt.“ Vgl. Mäding, Erhard: Regeln für die Gestaltung der Landschaft. Einführung in die Allgemeine Anordnung Nr. 20/VI/42 des Reichsführers SS, Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, über die Gestaltung der Landschaft in den eingegliederten Ostgebieten, Berlin 1943, S. 51. (Ich zitierte das in meiner Hausarbeit über den Heimatbegriff in Weblogs und auf Instagram (2015).)

*schnauf*

Immerhin bekam ich durch diese Lektüre viel neuen Input für mein immer noch etwas schwammiges Autobahnkapitel und war nach dem Bibliotheksbesuch deutlich besser gelaunt. Wie immer, yay! Gleich mal ein paar Incentives mitnehmen.


Zuhause hungrig ein BLT mit Käse zubereitet. Also eigentlich ein BLTC.

Abends gab’s dann noch Textfeedback, an dessen Umsetzung ich mich für ein Stündchen setzte, bis ich merkte, dass mein Kopf nur noch Varianten derselben Idee produzierte. Job für gestern beendet, Back-up gemacht, von allem Disskram natürlich auch (immer! jeden Tag! am liebsten auch mal zwischendurch!), Zeitung gelesen, The Great British Bake-Off geguckt und eine Schüssel gemischte Zerealien genossen. Ich werfe immer mehrere Müsli- oder Flakessorten zusammen und schneide einen Berg Obst rein. Dieses aus Versehen gekaufte Müsli werde ich vermutlich nicht nochmal kaufen, denn es besteht quasi nur aus Keksbröseln. Oder ich kaufe es als Netflix-Snack, aber nicht mehr, um noch Cornflakes darunterzumischen, die man eh nicht schmeckt, weil es sich beim Essen so anfühlt, als würde man einen Mürbeteigboden knabbern.

Noch ein Stündchen mit F. über den Tag geredet, gemeinsam eingeschlafen.

Ich las interessiert den Artikel Who Is Caroline Calloway? An Explainer, in dem ich eben diese Calloway kennenlernte. Diesen Artikel aus The Cut über sie hatte ich vor einigen Tagen schon mal in der Timeline, habe ihn aber noch nicht gelesen. Aber einen weiteren Artikel fand ich dann ebenfalls sehr unterhaltsam: The Empty Mason Jar of the Influencer Economy: The Case of Caroline Calloway and her Creativity Workshop Tour. Nicht ganz in einer Reihe wie das Fyre Festival, aber eine anständige Annäherung.

„Why should you care about this person you’ve most certainly never heard of before? Why are we wasting our time talking about yet another internet celebrity and yet another scam? Well, that’s a lot of questions and the answers will require time, but throughout this post, I hope to paint a portrait of the new age of the ‘influencer economy’, the insidious nature of Instagram’s faux aspirational agenda, and the one woman who exemplifies the trend at its most inept. Caroline Calloway’s scam may not be the biggest on the internet or the most upsetting but it certainly best represents the truth that lies beneath the well-filtered veil. […]

While all of this went on, Calloway strived to create her own brand of ‘authenticity’. She was ‘real’ for pulling out of a 6 figure book deal. She was true to herself for refuting a narrative she had created for herself for personal and financial gain, one that relied heavily on fetishistic notions of the British class system and academic elitism. She was a real artist for never actually making any art. This is the Instagram curse in many ways: The hunger to be an influencer without doing the work of real influencing.

But this call came to a climax with these workshops.“

Als Rausschmeißer einen Artikel, den gestern alle in die Timeline warfen und den ich schon im gedruckten Spiegel gelesen hatte. Macht überhaupt keine gute Laune, aber dafür einen schönen Bogen zum eigenen Forschungsobjekt: Da spricht ja mein Vater! von Niklas Frank über den neuen Faschismus in Deutschland.

„Obwohl ich gegen die Todesstrafe bin, habe ich sie meinem Vater immer gegönnt. Es ist gut, dass er wohl wenigstens für ein paar Sekunden jene Todesangst spüren musste, die er selbst millionenfach über unschuldige Menschen gebracht hat. Er hieß Hans Frank, er war Hitlers Generalgouverneur im besetzten Polen. Die Alliierten haben ihn dann in Nürnberg gehenkt.

Jetzt aber tauchen wieder Väter von meines Vaters Art auf, die mein Hirn vergiften wollen. 80 Jahre bin ich alt. Mein Leben lang hörte ich dieses verdruckste Schweigen, dieses nicht wirklich anerkennen wollen unserer Verbrechen. Doch nur wenn wir sie anerkennen, können wir trotz des damit verbundenen Schmerzes und der Wut ein ehrliches Leben ohne Hass hinlegen.

Oft betrachte ich meines Vaters Totenfoto. Wie er nach seiner Hinrichtung da liegt mit kaputtem Genick. Zurzeit lacht er mich frech an, denn das Schweigen wurde beendet – von der AfD.“