Tagebuch Mittwoch, 13. November 2019 – Giftschrank

Das Mustergießorakel versprach einen etwas schrägen, aber guten Tag.

Früher war mein Tagesorakel, ob ich die Pille aus der Blisterpackung so rausdrücken konnte, dass die Folie ganz blieb, also nur an einer Seite aufriss, das war dann ein guter Tag. Wenn sie mittig riss, war das doof. Aber hey, immerhin lese ich nicht regelmäßig Horoskope.

Gestern war Stabi-Tag, wo ich den ganzen Tag Billy Joels Vienna im Ohr hatte. Ich nehme es der Netflix-Serie The Politician sehr übel, dass sie den Song benutzt haben, das war meiner! Nur eben mit der veränderten Textzeile „When will you realize / The Stabi waits for you“ im Refrain. Endlich verstehe ich die ganzen Indie-Hörer (sagen die cool kids das noch?), wenn einer ihrer Geheimtipps plötzlich Mainstream wird. Wobei: Herr Joel ist vermutlich schon sehr mainstreamig.

In diesem Zusammenhang: Gerade neulich über Lieder nachgedacht, in denen Städte gewürdigt werden. Und zwar, als Augsburg in Paderborn spielte, das natürlich einen Stadionsong hat. Das fand ich schon putzig, ich dachte, nach Bochum könnte nichts mehr kommen. Wobei: Bochum ist super. Schreibt jemand Buxtehude für mich? Ich mag den Ortsnamen so gern.

Ich werfe hier nochmal den Bremer Stadionsong hin, denn der ist immer noch mein Liebling. Nach dem alten Augsburg-Ding, das ich neuerdings mal wieder im Stadion gehört habe. Hust.

So, jetzt aber in die Stabi, Musik aus dem Kopf geklopft und mal wieder an die Giftschrank-Theke gegangen, wo NS-Quellen für mich lagen. Für jedes dieser Werke muss man den Zettel ausfüllen, dass man das für wissenschaftliche Zwecke lesen will. Ich meine, in einem stand sogar vorne drin, dass es ausschließlich dafür rausgegeben wird, persönliches Interesse reicht also nicht, wenn man ein Sammelalbum mit Führerbildern durchblättern will, das 1936 von einer Hamburger Zigarettenfirma rausgegeben wurde. Die Bilder waren natürlich alle von Heinrich Hoffmann und ich bin doch erstaunt, wie sehr er zumindest mein Bild von Hitler prägen konnte – ich kannte sehr viele der Aufnahmen.

Bei einer zuckte ich zusammen und mein erster Gedanke war: Buh, ihr konntet nicht mal anständig Photoshop. Eines der sehr häufig verbreiteten Bilder war Hitlers sogenannter erster Spatenstich zur Reichsautobahn im September 1933 in Frankfurt. Ich fand es in diversen Quellen wieder, gerne dann, wenn es um das Gemeinschaftswerk der RAB geht, die angebliche Volksgemeinschaft, die zusammen usw. Im Sammelalbum fand ich die Aufnahme mit einem freigestellten Hitler, der hier quasi alleine auf einem Erdhaufen steht und schippt. Was natürlich im Kontext dieses Albums, das eine einzige Heldenverehrung des einzelnen Mannes ist, gut passt. Gleich mal notiert. Nebenbei ist in diesem Album auch das Aviso „Grille“ drin, womit ich gar nicht gerechnet hatte, das freute mich auch sehr. Allerdings wieder keine Innenaufnahmen, die suche ich noch relativ verzweifelt.

Nach den Originalquellen, nach denen ich immer duschen möchte oder zumindest viel trinken, ging ich in den Allgemeinen Lesesaal und vertiefte mich in ein paar kunsthistorische Begriffsdefinitionen. Dabei fand ich einen ausgesprochen schönen Ausdruck für viele der NS-Bilder, die, wenn sie nicht gerade Herrenmenschen beim Handgranatenschmeißen zeigen, größtenteils irre banal sind. Mir ist bei den vielen Autobahnbildern, natürlich nicht als erste, aufgefallen, dass einige von ihnen sehr in der Kontinuität meiner geliebten Neuen Sachlichkeit stehen. Dass diese Stilrichtung quasi die logische Vorstufe war, ist aber ein Fehlschluss. Günter Metken formulierte es sehr schön: „Die Stadt- und Industrielandschaften der Neuen Sachlichkeit sind etwas völlig anderes als die beschwichtigenden Momente einer Sonntagskunst.“ (Quelle) Sonntagskunst! Endlich habe ich einen besseren Begriff für das gefunden, was ich bisher in Gesprächen über die Diss immer irgendwann brummig als „Nazischeiß“ bezeichne, was sich für ein Forschungsobjekt vielleicht nicht ganz so gehört.

Hungrig, aber zufrieden heimgekehrt mit fünf neuen Büchern unter den Armen. Nur ein Käsesandwich gegessen und viele Äpfel, ansonsten Schrott, das muss ich etwas zurückfahren, das nimmt gerade überhand. Da belastet mich anscheinend irgendwas, an das ich nicht ranwill, stattdessen esse ich lieber zuviel Schokolade.