Tagebuch Donnerstag, 16. Januar 2020 – Jetzt bloß nicht im Lesesaal heulen
Gemeinsam aufgewacht, getrennt voneinander den Tag begonnen, wie so oft. Während der Herr noch wach wird, habe ich schon geduscht, Kaffee gemacht, das Geschirr von gestern abend verräumt und gebloggt. Danach fuhr ich mal wieder ins Hauptstaatsarchiv, wo ich eigentlich auf 15 Einheiten hoffte, aber es lagen nur lausige vier für mich bereit.
Ich wühlte mich also seufzend durch die Bestände der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Zunächst blätterte ich einen Order mit Nachlässen durch, wo ich noch wenige, aber spannende Details zu einigen von Protzens Werken fand – unter anderem, dass einige von ihnen bewusst vernichtet wurden. Leider nicht welche oder wieviele. Gna. Das ist auch noch einer meiner Knackpunkte – ich weiß von ungefähr der Hälfte seiner mir bekannten Werke nicht, wo sie heute sind. Auch nicht, wo alle Autobahnen sind. Immerhin habe ich mich gestern selbst davon überzeugt, dass es 28 Gemälde sind und nicht 29. Könnt ihr (hoffentlich) nächstes Jahr selbst nachlesen, warum das so ist.
Dann blätterte ich in Korrespondenz zu Ausstellungen, die 1976 stattgefunden hatten. Dabei stieß ich auf eine zum grafischen Werk von Marino Marini, für die die Gemäldesammlung 14 Leute zu einem kleinen Dinner im Hotel Vier Jahreszeiten eingeladen hatte, und dafür übersandte das Hotel jetzt drei Seiten Menüvorschläge. Ich hatte spontan Lust auf die Avocado norwegische Art, was auch immer das gewesen ist, sowie die Kalbsmedaillons Marie Chantal. Den dritten Ordner habe ich schon wieder vergessen, da war nichts für mich drin. Und dann kam Ordner Nummer 4.
Den hatte ich mir nur zum Vergnügen, haha, rauslegen lassen, denn in ihm ging es um die Bestände der Staatsgemäldesammlungen am Central Collecting Point in München. Ich hoffte ein bisschen auf Zufall und miese Ablage und daher etwas zu Protzen, aber wenn man auf Schlampigkeit hofft, haben natürlich alle wieder vernünftig gearbeitet. Jedenfalls lagen in diesem alten Ding gefühlt hundert hauchdünne Durchschlagspapiere, auf denen die jeweiligen deutschen Konservatoren der US Army bestätigten, welches Kunstwerk sie gerade entgegen genommen hatten, um es im weitgehend unzerstörten Haus der Kunst fotografieren zu lassen.
Die Archivalien durfte ich nicht fotografieren (andere schon), aber eine Seite habe ich mir mal abgeschrieben:
„Office of Military Government for Bavaria
Economics Division
Munich, Germany. APO 407, US Army
Receipt
25 March 1948
I have received this date from the custody of the Central Collection Point Munich the following listed paintings:
– Mun. No. 18181 Dürer Paumgartner Altar
– Mun. No. 18148 Holbein d. Ä. Verkündigung an Maria
– Mun. No. 28006 Cranach d. Ä. Christus am Kreuz
Items will be returned after photographs have been made in the Haus der Kunst.
Dr. K. Röthel
Konservator an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen“
Das war jetzt weder ein Teil des äußeren Restitutionsprozesses, wo aus anderen Ländern geraubte Kunst zurückgegeben wurde, noch einer des inneren, wo „an Personen, die ‚aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus‘ beraubt worden waren, Kunstgegenstände zurückgegeben wurden, Zitat aus dem obigen Link, der nicht zur Wikipedia geht. Es war einfach nur ein Vorgang, wo wegen der Kriegsumstände ausgelagerte Besitztümer der Staatsgemäldesammlungen aus den süddeutschen und österreichischen Stollen oder provisorischen Lagerstätten zurück nach München kamen und registriert wurden, um irgendwann erneut in der wieder aufgebauten Alten Pinakothek zu hängen.
Daher weiß ich nicht genau, warum mich diese Schreiben so angefasst haben. Vielleicht weil ich schlicht zum ersten Mal Originaldokumente aus dem CCP in der Hand hatte, von dem ich vor dem Studium nie gehört hatte, aber der seitdem dauernd in meinem Hinterkopf ist, denn das Zentralinstitut für Kunstgeschichte ist heute in einem der beiden Gebäude untergebracht. Die Bibliothek, die ich so liebe, sieht heute noch fast genauso aus wie auf den Fotos im verlinkten Artikel. Mir ist bei jedem Besuch klar, in welchem Haus ich sitze. Meistens denke ich allerdings eher daran, dass ich in einem ehemaligen Nazibau arbeite, weil ich das natürlich noch mehr im Hinterkopf habe.
Aber die Arbeit der „Monuments Men“ (und Women) und des Alliierten Kunstschutzes beeindruckt mich dann doch immer wieder. Gerade die US-Armee hätte das Deutsche Reich locker zu Klump bomben können, aber stattdessen haben die Air-Force-Piloten Listen mitgenommen, auf denen steht, welche Kirche und welches Schloss sie bitte verschonen sollen, die wären kunsthistorisch wichtig, möglichst dran vorbeiwerfen, please. Jedesmal, wenn ich auf die USA pissig bin, denke ich an diese Leistung, und bin ein bisschen weniger pissig. Und gestern hatte ich halt zum ersten Mal ein Dokument in den Händen, auf denen was von US Army stand, hielt einfach mal inne und ließ mich ein bisschen vom Hauch der Geschichte umwehen. Mache ich ja eigentlich mit jeder Akte, die ich in jedem Archiv in der Hand habe, weswegen ich auch noch nicht so genau weiß, warum mich das gestern etwas mehr beeindruckt hat als all die anderen staubigen Unterlagen, die ich schon durchgewühlt habe. Vielleicht weil ich ganz simpel mindestens ein Kunstwerk vor Augen hatte, an dem ich schon hundertmal in der Alten Pinakothek vorbeigelaufen bin. Das steht da einfach rum. Das ist, und das muss man sich vielleicht ab und zu mal in jedem Museum sagen, keine Selbstverständlichkeit.
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Viel zu früh Feierabend gemacht, daher zuhause weiter am Schreibtisch gesessen. Aber erstmal eine Riesenportion Möhrensalat gegessen mit einem wilden Dressing aus Honig, Ingwer, Knoblauch, Sojasauce, Reisweinessig, dunklem Sesamöl und Olivenöl. Hervorragend! Die Schüssel wurde leer, Dressing blieb übrig – also gab’s abends einfach nochmal Möhren und Gurken darin. Außerdem eine Runde Käse mit Quittengelee und einem Scheibchen meines derzeitigen Lieblingsbrots (da ist Sesam drin, Sesam ist immer gut). Eigentlich hätte ich Lust auf einen Rotwein gehabt, aber alleine wollte ich keine Flasche öffnen.
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Nachmittags diverse Archive wegen Zeug angemailt. Langsam nähere ich mich dem Ende des Werkverzeichnisses, und es sind immer noch Wissenslücken da, die ich nicht füllen kann. Außerdem Quellen und Forschungsstand mal wieder umformuliert nach den neuen Erkenntnissen aus dem Staatsarchiv. Mir ist wieder einmal bewusst geworden, dass das Wichtigste, was ich im Studium gelernt habe, das sogenannte „ergebnisoffene Forschen“ ist. Momentan bin ich in der Position, genau das Gegenteil von dem zu behaupten, mit dem ich die Diss angefangen habe. Aber jetzt kann ich diese Position begründen.