Tagebuch Samstag, 4. April 2020 – Der einzige Termin im Kalender
Um 5.30 Uhr wachgewesen, am Handy rumgespielt, nochmal umgedreht und erst gegen 9 aufgewacht. Dann voller Tatendrang die Wohnung geputzt, falls heute das Gesundheitsamt klingelt.
Den Rest des Tages im Internet rumgehangen, zwischendurch meine übliche „Pfanne mit allem Gemüse, was weg muss plus Rostbratwürstchen“ zu mir genommen, Tee getrunken.
Um 19 Uhr wie immer Herrn Levit zugehört, der unter anderem die Klavierversion der Rhapsody in Blue darbot. Dabei fiel mir auf, dass diese halbe Stunde Musik derzeit mein einziger fester Termin ist. Es ist völlig egal, auch unter der Woche, wann ich aufstehe und was ich mache, aber um 19 Uhr höre ich Klaviermusik. Soviel zu meinem tollen Home-Office- bzw. Quarantäne-Tipp „Schafft euch Strukturen.“ Ich habe momentan nur diese.
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Weiterhin vielen Dank für eure Zuwendungen, ich weiß das sehr zu schätzen.
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Apropos Kultur im Internet. (Ganz hervorragende Überleitung, Gröner, da merkt man den Profi.)
Auf Nachtkritik.de sprechen Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, die Intendanten des Schauspielhaus Zürich, darüber, ob ihr Haus streamt oder nicht und wenn nein, warum nicht. In Zürich ist noch alles bis zum 30. April geschlossen, die beiden scheinen aber eher damit zu rechnen, erst zur nächsten Spielzeit wieder öffnen zu können.
Ich mochte die Ãœberlegung, die dahinter stand, erst einmal nicht zu streamen:
„Wir hatten uns eine zweiwöchige Karenzzeit verordnet: zwei Wochen keinen Output. Ich bin extrem froh, dass wir nicht sofort mit etwas aufgewartet sind. Ich hatte das Gefühl, dass ein richtiger Druck entstanden ist auf die Theater, sofort zu reagieren – nicht von der Weltöffentlichkeit, die hatte sicher anderes zu tun, aber von der Theateröffentlichkeit. Und dann wurde Zeugs rausgehauen, überall rauscht es. In Wirklichkeit aber wurde etwas übersprungen. Künstler*innen sind auch Menschen, und sie waren mit der Situation genauso überfordert wie alle anderen. Zudem – Kunst braucht Zeit. Eben für Fragen wie: Was bedeutet es für eine Kunstform, die so sehr vom Moment der leiblichen Ko-Präsenz und dem Live-Moment zwischen Menschen ausgeht, wenn die Orte der Austragung dafür zusperren und sich stattdessen alles online und virtuell ereignen soll? Dafür braucht es in jedem Fall spezifische Formen.“
Ich bin für jedes Theater und jedes Opernhaus dankbar, das spontan gesagt hat, hier sind unsere Streams, guckt euch was an, ihr braucht jetzt Zerstreuung. Aber ich merke auch: Ich kann gar nicht alles sehen, was geboten wird und ich will es auch nicht mehr. Die wenigen Theater-Streams, die ich gesehen habe, waren qualitativ nicht das, was ich sehen möchte, weil die Aufzeichnungen nicht für mich als Publikum gemacht wurden, sondern für interne Zwecke. Das fällt für mich unter die angesprochenen „spezifischen Formen“, die noch gefunden werden müssen.
Eine dieser neuen Formen sind die Hauskonzerte von Levit. Er braucht kein Ensemble, kein Orchester und er verzichtet bewusst auf tolle Mikrofone, wie er im Zeit-Podcast erzählte. Das macht es für mich zu etwas anderem als perfekt eingestellte Mitschnitte aus der Elbphilharmonie, denn das sollen seine Hauskonzerte gar nicht sein. Ihm geht es, wenn ich das mal paraphrasieren darf, um das Teilen. Er möchte spielen, aber eben nur mit Publikum. Und wenn wir als eben dieses Publikum dabei zuhören wollen, wunderbar. Es geht, wie bei jedem Konzert, darum, etwas gemeinsam zu erleben. Dass wir gerade nicht alle in der Elphi sitzen, ist schade, aber Levit öffnet sein Wohnzimmer für uns, überträgt live und wir können an diesem Ereignis teilnehmen. An den Zahlen während der Live-Übertragung, die man auf Insta oder Twitter sehen kann, wird ersichtlich, dass es durchaus einige Menschen gibt, die genau dieses Gemeinschaftserlebnis mögen. Schaut man einen Tag später auf den Stream, sind aus den 2000 Zuhörern, die um 19 Uhr dabei waren, gerne 80.000 geworden. Ich persönlich mag das Live-Erlebnis, ich mag aber auch die Möglichkeit, das Konzert zeitversetzt zu sehen. Der Unterschied ist aber immer noch, dass ich auch das Live-Konzert hätte mitnehmen können, und genau das können die großen Häuser gerade leider nicht bieten, weil kein Orchester so viel Abstand halten kann und kein Schauspielensemble so auf eine Bühne passt.
Ich fand den Hinweis auf die „leibliche Ko-Präsenz“ im Interview auch sehr gut und wichtig. Ja, das Internet ermöglicht vieles, aber eben nicht alles. Das kann man ewig bedauern – oder als zwei Paar Schuhe sehen. In der FAZ stand vor einigen Tagen mal wieder einer dieser Artikel, die nicht verstehen wollen, dass Museen im Internet nicht den Besuch im Haus ersetzen wollen, und gerade gestern meinte der Direktor der Met, dass Opern als Stream ja auch was ganz anderes wären als das Erlebnis vor Ort. Ach was. Echt jetzt? Dafür braucht ihr noch 100 Zeilen? Darum geht es doch gar nicht.
Museen nutzen das Internet als Verlängerung ihres Tuns, als eine andere, vielleicht niedrigschwelligere Herangehensweise an Kunst. (Oder ballern uns mit irren Produktionen voll, bin immer noch nicht ganz fertig mit der Seite.) Und Opern- und Konzerthäuser gönnen uns Einblicke hinter die Kulissen, teasern uns an mit Trailern ihrer Produktionen. So lange wir nicht selbst vor Bildern stehen oder im Publikum sitzen können, bieten Streams immerhin eine Ergänzung. Eine Ergänzung, keinen Ersatz. Natürlich kann nichts, auch nicht die stets verfügbaren, hochauflösenden Googlefotos, den eigenen, persönlichen Eindruck ersetzen, den man hat, wenn man vor einem Kunstwerk steht, das einen begeistert. Weil es schlicht etwas anderes ist, in einem Raum zu stehen, vielleicht seine Füße zu spüren, auf denen man schon stundenlang durch die Säle gelaufen ist, die leisen Stimmen zu hören, den knarzenden Fußboden, die komische trockene Museumsluft zu atmen, und dann ist da plötzlich ein Werk, das dich die Füße und die Luft vergessen lässt, und du spürst körperlich, dass du gerade etwas Besonderes siehst. Genauso im Theater oder der Oper. Klar kann ich auch zuhause auf dem Sofa anfangen zu heulen, wenn mich Musik ergreift, aber ich bin ihr längst nicht so ausgeliefert wie in einem dunklen Raum inmitten einer Menschenmenge. Die körperliche Überwältigung ist eine andere.
Das vermisse ich, aber ich bin trotzdem dankbar für die Ergänzung. Und für den einzigen Termin, den ich derzeit jeden Abend habe.
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Außerdem möchte ich diese Tapete von 1913 haben.