Tagebuch Montag, 13. April 2020 – Keine Diss, keine Callas (aber Arme und Kekse. Na fast)
Morgens den Plan umgesetzt, der für Sonntag gefasst war: gleich nach dem Aufstehen aufs Fahrrad setzen und losfahren. Es war ein Hauch mehr los als am Karfreitag, aber auch dieser Verkehr verdiente seinen Namen kaum. Wie am Freitag radelte ich sehr unbeschwert und nicht besonders schnell durch die stille und fast leere Stadt. Wie ich nachträglich erfuhr, wären F. und ich uns bei St. Sebastian fast begegnet, der Herr ging dort morgens spazieren, und wir haben uns vermutlich so um fünf Minuten verpasst. F. bog links an der Kirche in Richtung Innenstadt ab, ich ließ hingegen die Kirche rechts liegen und radelte zum Olympiagelände.
Jedesmal, wenn ich da bin, staune ich über dieses Kleinod mitten in der Stadt, hier schrieb ich schon einmal darüber. Wer zu faul ist, zum Blogeintrag zu klicken, bekommt hier nochmal einen Ausschnitt aus meiner Hausarbeit über Sportstadien (2016), den ich auch drüben zitierte, weil ich den Gegensatz zwischen den Sportstätten 1936 und 1972 immer noch faszinierend finde. (Der Auszug steht auf den Seiten 6–8 und hat dort natürlich tolle Fußnoten.)
„In Amsterdam 1928 wurden die zusätzlichen Sportanlagen städtebaulich um das Stadion herum gruppiert; es entstand die erste olympische Gesamtanlage. Die Spiele in Berlin 1936 gingen über diese reine Sportanlage deutlich hinaus: Auf dem sogenannten Reichssportfeld entstanden zusätzlich zum Stadion für 100.000 Zuschauer noch „einer einheitlichen Pflege des deutschen Sports dienende[…] Bauten mit Gedächtnis- und Versammlungsstätten der Nation, mit Theater[n] und Denkmälern in einem Festraum vereinigt“.
Geplant wurde das Stadion bereits 1925 von Werner March (1894–1976); die Nationalsozialisten veränderten den modernen Entwurf während der Bauphase zu einem imperialen Monumentalbau im Sinne der staatlichen Überwältigungsarchitektur. Neben dem Stadion lag das Maifeld mit Tribüne, auf dem 250.000 Menschen aufmarschieren konnten. Das Marathontor im Stadion gab den Blick frei auf einen Glockenturm am westlichen Ende des Maifelds, der über der Langemarckhalle stand, in dem deutscher Toten des Ersten Weltkriegs gedacht wurde. Damit war erstmals ein Sportstadion der Neuzeit nicht nur Teil einer staatlichen Repräsentation, sondern seiner Ideologie: Die Spiele sollte nicht nur die Aufrüstung für einen neuen Weltkrieg verschleiern, sondern auch die angebliche Überlegenheit der „arischen Rasse“ demonstrieren. Die Monumentalarchitektur war die Bühne dieser Ideologie.
An den Spielen in München 1972 lässt sich gut ablesen, wie sehr sich das Selbstverständnis eines Staates ändern kann. Die „heiteren Spiele“, die „Spiele im Grünen“, waren architektonisch ein deutlicher Gegenentwurf zu Berlin: „Statt in geordneten Marschkolonnen und in geometrisierter Kanalisierung bewegten sich die Menschen im freien Fluss, im hügeligen Park, unter einer lichtdurchlässigen Zeltlandschaft, geleitet von heiteren Farben zur Orientierung.“ Bei den „heiteren Farben“ hatte man bewusst auf Rot verzichtet, um auch die letzten Assoziationen zu den Berliner Spielen zu tilgen. […]
Das Münchner Olympiagelände inklusive des Stadions war von Anfang an Teil einer zukunftsfähigen Stadtplanung. Zur Vorbereitung der Spiele wurde die Münchner Innenstadt fußgängerfreundlicher gestaltet, die öffentlichen Verkehrsmittel wurden verbessert, 233 neue Straßenkilometer gebaut sowie diverse Einkaufs- und Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen. Das Gelände ist bis heute ein beliebter und belebter Park, und aus dem Olympischen Dorf wurden begehrte Miet- und Eigentumswohnungen. Das Stadion selbst war zwar nicht als bauliche Ikone geplant, sein charakteristisches Zeltdach ist aber inzwischen aus der Stadtsilhouette nicht mehr wegzudenken. Das liegt auch daran, dass die Bürger und Bürgerinnen für den Erhalt der olympischen Anlagen kämpften. Nicht in jeder Stadt blieben die Stadien bestehen.“
Eine Fußnote dazu:
„Olympiagelände-Architekt Günter Behnisch schrieb 1987: „Im Bild des Olympiaparks hat sich die Überdachung stärker in den Vordergrund geschoben als dies zunächst geplant war. Ihrer sichtbaren, auffälligen Form wegen […] So übersieht man leicht, daß das Wesentliche unseres Entwurfes unter und neben dem Dach liegt; es ist die Sport- und Spiellandschaft, der Münchner Olympiapark.“
Und genau die begeisterte mich auch gestern wieder, obwohl ich nur im Schritttempo am Olympiasee entlangradelte, um möglichst lange übers Wasser gucken zu können, hinter dem sich hügeliges Grün erstreckt, das ständig von den verschiedenen Olympiabauten unterbrochen wird. Diese Kombination aus weichen, welligen Hügeln und der kantigen, aber leichten Architektur ist bis heute schlicht großartig. Und momentan ist das Gelände fest in der Hand von Joggenden und Radelnden, die alle halbwegs Abstand zueinander halten. Ich hatte Platz und Zeit, fand es ausgesprochen herrlich und wollte gar keine Fotos machen. Nur eins für Insta von meinem Lieblingsflutlichtmast am Stadion, was ich halt so mache.
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Wieder zuhause wurde geduscht und endlich Kaffee getrunken, und während ich die Wohnung durchlüftete, um sie dann wieder vor den verdammten Birkenpollen aus dem Innenhof abzudichten, sortierte ich die Osterbeute von der Türklinke gestern.
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Weil ich Samstag und Sonntag so brav gearbeitet hatte, ließ ich das gestern sein, die Diss darf ja auch mal ein bisschen Ruhe haben und holte stattdessen lieber das Backwerk nach, auf das ich Sonntag keine Lust gehabt hatte. Ist wie immer hervorragend geworden. Idiotensicheres Rezept. Das nächste Mal werde ich mich an tollere Flechtversionen wagen, aber gestern war ich mit drei Strängen zufrieden.
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Abends hätten F. und ich eigentlich in der Oper gesessen. Mein Geburtstagsgeschenk, das ich ja auch schon nicht mehr bekommen hatte, weil wir uns schon brav selbst isolierten, wäre eine Karte für „7 Deaths of Maria Callas“ mit Marina Abramovich gewesen. Die Künstlerin war seit einigen Wochen in der Stadt, und es wurde sogar noch geprobt, weil nach der Live-Absage über einen Stream nachgedacht wurde, aber das hatte sich in der vergangenen Woche auch erledigt. In der NYT spricht Abramovich über ihr Projekt, was mein Fan-Sein kurz etwas erschüttert hat.
„In six of the videos, Mr. Dafoe plays Ms. Abramovic’s lover or assassin; in all of them, Ms. Abramovic dies. In one, Mr. Dafoe handles a python that strangles Ms. Abramovic, to the strains of the “Ave Maria” Desdemona sings shortly before being throttled by the title character in Verdi’s “Otello.”
“I’ve known her for years, and I like being part of her work,” Mr. Dafoe said. “If she wants me to kill her, well, that’s quite an honor.”
In another video, Mr. Dafoe stabs Ms. Abramovic to the Habanera from “Carmen.” Susan McClary, a professor of musicology at Case Western Reserve University in Cleveland, said in an interview that Bizet’s opera had established the trope of the tragic heroine who gets murdered onstage. Women had died in opera from the art form’s beginnings, she said, but the audience didn’t see it until the 19th century.
“After ‘Carmen,’ because it was such a hit, it became almost de rigueur,” Professor McClary said. “If a woman sings these high notes, and does all of this self-display, then, somehow or other, she’s going to have to be killed.”
“7 Deaths of Maria Callas” asks the audience to think about the ubiquity of the dying diva, but Ms. Abramovic said she did not want it to be seen as a critique of misogyny in opera. “I’m not a feminist, to start with,” she said; a woman’s death onstage was simply “more dramatic” and “more beautiful” than a man’s.“