Tagebuch Dienstag, 28. April 2020 – Erste Machetenkorrektur

Am Wochenende bereitete ich mir bereits Darjeelingtee zu, weil mein gelieber Bünting Grünpack sehr zur Neige geht, und das ist mein Arbeitstee, der wird also für die Woche aufgespart. Bitte keine Zusendungen, ich möchte keine Päckchen empfangen. (Ich sage das nur, weil ihr in letzter Zeit damit recht freigiebig seid, was mich einerseits freut, mir aber auch jedesmal einen menschlichen Kontakt einbringt. Entschuldigung für diese Undankbarkeit.)

Ich erinnerte mich an meine letzte Suche nach Grünpack, die mich durch halb München führte, was jetzt sowieso nicht möglich ist, aber sie endete damit, dass ich online beim Teehaus bestellte. Danach erzählten mir diverse Leser*innen von Grünpack-Sichtungen in ihrer Nachbarschaft in München, ich überprüfte einige Verkaufsstellen, an denen ich ohne große Umwege vorbeikomme, fand das Vorkommen dieses herrlichen Getränks bestätigt und merkte mir, wenn deine zwei Online-Kilo weggetrunken sind, kannst du da entspannt vorbeigehen.

Ich glaube inzwischen, in totaler Überschätzung meiner eigenen Wichtigkeit, dass damals viele Menschen in Geschäften nach Grünpack gefragt haben, er deswegen geordert wurde und bei meinem Besuch daher vorrätig war. Anscheinend kauft den aber niemand hier im Süden außer mir, weswegen er wieder schnell aus dem Sortiment verschwand, denn an den beiden Stellen, die ich mir gemerkt hatte, war er in letzter Zeit nicht mehr erhältlich.

Jetzt habe ich noch ungefähr bis Ende dieser Woche den Lieblingstee und dann mache ich alle anderen Tüten in der Teekiste leer. Wenn diese Pandemie irgendwas Gutes hat, dann, dass ich endlich meine Vorräte wegtrinke und -esse anstatt ständig was nachzukaufen. Aber sobald ich keine Angst mehr vor Menschen habe, wird wieder Ostfriesentee geordert. In Massen.

Gestern wieder mies geschlafen, aber immerhin bis 5. Trotzdem erst um 7 aufgestanden, vorher schon im Bett das Internet leergelesen. Das war gestern wieder ein Tag, an dem man den Twitter-Account kündigen möchte, weil alte, weiße Männer(TM) mal wieder Müll von sich gegeben habe, dem nicht zu entgehen war. Den Theatermenschen und den Grünen habe ich noch mitbekommen, als der FDP-Typ plötzlich in den Trends auftauchte, machte ich mir nicht einmal die Mühe zu gucken, was der denn wohl Dusseliges gesagt hat. Ignoriert, Handy weggelegt, lieber Offline-Dinge getan. Wie Lesen.

„Möchten Sie, lieber Herr, nicht auch da seßhaft sein, wo es absolut keinen Nimbus, keine Kunst- und Literaturgötter und keinen Politiker gibt, dem man sonderlich viel zutraut? Wenn ja, dann kommen Sie nach München. (Nebenbei: Ich bin in keiner Weise vom Fremdenverkehrsverein bestochen, ich sage das rein aus mir heraus.)

Unsere Stadt ist in jeder Weise finster und kleinbürgerlich. Sie ist katholisch und alles, was davon abweicht, ist bolschewistisch. (Als die Josefine Baker auftreten wollte, hieß man das so, und als der Glaspalast abbrannte, war das ein Werk ‚abgewiesener, bolschewistisch infizierter Künstler‘.)

München ist seit langer, langer Zeit sozusagen auf den Hund gekommen, München ist sicher von allen deutschen Städten die provinzlerischste, wenngleich man von unseren wortreichen Reise- und Kunstphilosophen Hausenstein bis zu unserem ehrengeachteten Oberbürgermeister eifrigst bemüht ist, das Vergangene dieser Stadt wieder zu Glanz zu bringen. (Zukunft kennt man hierorts nicht, kaum Gegenwärtiges.) Verlassen Sie sich drauf, daß das auch nie anders wird. da hilft keine Revolution, kein Hitler, ja nicht einmal der Rückgang der Fremdenfrequenz. Wir sind und bleiben ein stadtähnliches Dorf und können wirklich nichts anderes mehr tun, als gemütlich sterben.

Grad aber dieses gemütliche Sterben ist das Faszinierende dieser Stadt. Es macht uneitel, versöhnlich und wunderbar glaubenslos. Und weil wir alle, wir echten Münchner, durch unsere katholische Herkunft nihilistisch in einem herrlich wurschtigen Sinn angekränkelt sind, darum läßt sich’s hier gut leben. Wir sind froh, daß uns irgend jemand regiert, daß jemand immer wieder versucht, uns auf diese oder jene Weise vorwärts zu bringen. ‚Laßt ihn nur! Wird’s was, haben wir den Nutzen! Wird’s nichts, kann man darüber granteln!‘ Das ungefähr ist unsere Grundeinstellung.“

Oskar Maria Graf: Notizbuch eines Provinzschriftstellers, Basel 1932, S. 49/50. Sehr lesenswert. Nebenbei: Von Protzen verbrannten acht Werke im Glaspalast.

Ich tippe übrigens aus einer Originalausgabe von 1932 ab, die F. mal in einem Antiquariat gefunden hat. Deswegen traue ich mich nicht, die Seiten so gnadenlos zu beschweren, wie ich das sonst beim Abtippen mache: iPhone auf die eine Seite, kleine externe Festplatte auf die andere. Dieses Buch schlage ich quasi nur 45 Grad weit auf – und vermisse gerade NOCH MEHR ALS EH SCHON diese lustigen Schaumstoffkeile, die man in Archiven kriegt, damit man Bücher oder Aktenberge nicht so weit aufschlagen muss. Und die Bleischlange, die man so hinlegen kann, wie man möchte und die weniger kaputtmacht als iPhones und Festplatten.

Ansonsten erneut durch die Diss gegangen, nun erstmals mit der Machete. Da meine Arbeit noch aus zehn Einzeldokumenten besteht, weil ich sonst wahnsinnig beim Bearbeiten werde, zählte ich gestern mal händisch durch, wo ich nach dem ersten Korrekturgang geendet war: 342 Seiten. Das ist zuviel. Nun begann also die Phase des „So richtig wichtig ist es nicht“, wie ich es gerne nenne. Dieser Brief von Vaddern an Sohnemann Protzen von 1921? Ja, hübsch, aber zahlt er auf die Forschungsfrage ein? Nein. Raus damit. Dieses funky Zitat zur Landschaftsgestaltung der Reichsautobahn? Ja, hübsch, aber hatte ich sinngemäß schon mal sehr ähnlich, nur in anderer Formulierung. Raus damit. Dieser detaillierte Forschungsstand, den man vielleicht auch raffen könnte? Ab in die Fußnoten. Jetzt sind aus meinen 50 Seiten Einleitung (Quellen, Forschungsstand, Ziel dieser Arbeit und Autobahnen: Wer sie sind und wieso sie gemalt wurden) immerhin schon nur noch 45 Seiten geworden. Da gehe ich beim nächsten Korrekturgang nochmal exzessiv rüber.

Gegessen: Kuchenreste von vorgestern, Tomatensalat, Butterbrot. Gerade sehr kochfaul, vorgestern gab’s auch nur eine Riesenschüssel Bohnensalat plus Kuchen und Butterbrot. Und eine Tüte Chips, die F. unvorsichtigerweise hiergelassen hatte. Sind sie da, sind sie weg, da bin ich völlig disziplinlos.