Tagebuch Montag, 6. Juli 2020 – Der Reihe nach

Mein Gehirn verabschiedete sich eine Woche nach Abgabe der Diss in den Urlaub. Die letzten Tage musste ich noch Dinge geregelt kriegen, aber diese Woche ist größtenteils nur Abschalten angesagt, bevor Sonntag die neue anstrengende Woche beginnt (alte Heimat, Mütterchen wenigstens für ein paar Tage ablösen). Dementsprechend verbrachte ich den Tag überwiegend in hirnloser Behäbigkeit. Zur sonntäglichen Folge Masterchef Australia, die ich Montags gucke, war ich noch wach, dann las ich ein paar Stündchen in Chernows Hamilton-Biografie weiter, irgendwann klickte ich eine Serie an und verschlief gefühlt den ganzen Resttag auf dem Sofa.

In der Biografie stolperte ich über ein paar stilistische Eigenheiten, die mich aus dem Lesefluss rissen, mich aber gleichzeitig in ihm hielten. (Zunächst fand ich aber einen Satz über ein archivalisches und nicht mehr vollständig lesbares Schriftstück lustig, das aus folgendem Grund nicht mehr lesbar war: „Insects habe unfortunately eaten the middle letters“. (S. 15)) Chernow wendet sich gefühlt recht oft an die Leserin anstatt einfach seine Sicht der Story zu erzählen; er spricht von „our saga“, stellt direkte Fragen: „Why had he not been baptized before?“ oder leitet berichtende Einschübe bzw. Zusammenfassungen ein mit „let us pause briefly to“ do dies und das, bevor es weitergeht. Ich mag das ganz gerne, ein bisschen an die Hand genommen zu werden in einem Text, der über 700 Seiten lang ist und in dem ich, gerade zu Beginn, sehr viele Informationen behalten muss, um den roten Faden ausfindig machen zu können, der sich vermutlich durch den Brocken weben wird, damit ich etwas zum Festhalten habe.

Vor ein paar Tagen stolperte ich auf Twitter über eine Diskussion, die ich nicht weiterverfolgt habe, aber daran musste ich gestern denken, als ich diese bewusst eingefügten Fixpunkte oder Leitsysteme bei Chernow bemerkte. Dort wurde bemängelt, dass in journalistischen Artikeln die Phrase „Aber der Reihe nach“ die Leserin quasi für dumm erklärt, die ohne solche kurzen Atempausen anscheinend nicht in der Lage ist, dem Text folgen zu können. Wie gesagt, ich habe die Diskussion nicht verfolgt, sondern mit den Augen gerollt und gedacht, dann lasst das in euren Texten halt weg und gut ist.

Seitdem frage ich mich aber, ob ich mit dem Augenrollen recht hatte. Ich habe gerade keine Stilfibel zur Hand, die mir sagt, wie gute Texte bzw. eine schlaue Leserinnenführung funktionieren. Ich persönlich, ich erwähnte es, mag es gerne, wenn man mir kurz eine Denkpause gönnt. Ich erinnerte mich an einen Satz in der Diss im Kapitel 1926–1933, wo ich kurz über Akte und Halbakte schreibe, die Protzen sehr spärlich malte. Die bekamen einen Absatz, der bis in die 1950er-Jahre führte, damit ich das Thema abarbeiten und abnicken und es im Rest der Arbeit ignorieren konnte, weil es für mein Forschungsinteresse egal ist. Als ich mit der kurzen Aufzählung durch war, begann ich den nächsten Absatz mit „Zurück ins Jahr 1932“, weil ich deutlich machen wollte, dass es jetzt chronologisch weitergeht.

Seit gestern, „Let us pause“ und „Aber der Reihe nach“ denke ich darüber nach, ob ich damit meinen Doktorvater zu einem debilen Leser gemacht habe, dem nach einem Absatz über nackte Damen nicht zugetraut werden kann, wieder über Kinderbilder von 1932 lesen zu können, ohne total verwirrt zu sein. Könnte aber auch mein überspanntes Hirn gewesen sein, das plötzlich nichts mehr zum Nachdenken hat, aber dringend wieder was zum Nachdenken haben will, die Nervensäge.