Was toll war, Dienstag, 28. Juli 2020 – Thierry Mugler

Klamotten gucke ich grundsätzlich lieber in Museen an anstatt in Läden; in London genoss ich vor ewigen Zeiten Armani, in der Münchner Kunsthalle sah ich bereits Gaultier, und in meinem Regal stehen ein paar Bildbände zu Yamamoto und Saint Laurent. Gestern schmachtete ich die Kreationen von Thierry Mugler an, erneut in der Kunsthalle. Die Ausstellung wurde bis Februar 2021 verlängert, und bis dahin solltet ihr sie alle gesehen haben, denn sie ist großartig.

Dass niemand in engen Räumen mehr weiß, was Abstand bedeutet, hat hingegen genervt, aber vielleicht lag das an unserer im Nachhinein doch eher doofen Idee, gleich morgens um 10 an der Kunsthalle zu sein. Als wir um 11 gingen, stand unten niemand mehr an der Kasse und auch oben vor den Austellungsräumen war keine Schlange, während man drinnen dauernd navigieren und die Luft anhalten musste, auch wenn die Anzahl der Besucher:innen natürlich begrenzt war.

Gleich im ersten Raum – die Räume hießen „Akt I, Akt II“ usw., naja – standen die Damen in den Blechgewändern, die ich von Mugler kannte. Ihr auch, falls ihr George Michaels Too Funky noch im Hinterkopf habt, da laufen alle in Mugler rum.

Im Video ist das auch großartige Bustier zu sehen, das aus Motorradteilen besteht und handbemalt wurde. Darauf war ich vor allem gespannt, und es sieht im Original noch toller aus als auf Video. (Oder auf meinem eher müden Foto.)

Im Nebenraum lief dann das eben erwähnte Video, und das rote Cowgirl-Kostümchen sowie das schwarze Spitzenkleid daraus sind zu sehen, das Nadia Auermann trug. Wobei: Die Spitze besteht nicht aus Stoff, sondern aus Gummi, was mich völlig fasziniert hat. Gerade bei den metallenen Kreationen hatte ich zum ersten Mal Respekt vor Models – das muss so irre unbequem sein, die Dinger zu tragen. Aber in ein hochgeschlossenes, langärmeliges Gummikleid zu schlüpfen, dürfte auch mehr Koordination erfordern als ich mir vorstellen kann.


Mugler war einer der ersten Designer, der Fetischassoziationen völlig selbstverständlich in die Haute Couture integrierte: eben das Gummikleid bzw. weitere Materialien wie Latex. Durch Korsetts sowie einer Mischung aus maskulinen Attributen wie breiten Schultern und gleichzeitig feminin konnotierten Zügen wie schmalen Taillen und der Betonung von Brust und Po schuf er eine einzigartige Ausstrahlung für die Trägerinnen seiner Mode. Eine meiner Säulenheiligen, die Kunsthistorikern Linda Nochlin, sprach über diese Art Kleidung mit Mugler (1994) und meinte:

„NOCHLIN: Grandiosity and generosity, at the same time. That I find politically extremely interesting, because it shakes up our ideas of femininity altogether. It’s so extreme.

MUGLER: Thank you!

NOCHLIN: It’s so extreme that these women aren’t sex objects, they’re sex subjects.“

Der letzte Satz steht auch stolz (und gerechtfertigt) im Wandtext meines Lieblingsraums. Dort ist zum Beispiel das Venuskleid von 1995 zu sehen, das Cardi B. als Archivstück 2019 zu den Grammys trug; hier ein achtminütiger Film dazu, hier ein Großteil der Kollektion aus diesem Jahr. Aber vor allem sind dort die Kleider zu sehen, die ich am eindringlichsten mit Mugler verbinde, neben den Metalldingern. Zum Beispiel dieses Kleid, das ich seit 25 Jahren im Hinterkopf habe, weil ich es so grandios finde:

Falls man es nicht erkennen kann: Das Kleid hat keine Träger, der Stoff ist an Brustwarzenpiercings befestigt. Sex Subject. Andere Kostüme hatten Aussparungen, wo Haut durch schwarzen Chiffon schimmerte, wo Stoffteile an hauchdünnen Fäden hingen, so dass alles aussah wie auf den Körper geworfener Stoff, der ganz kurz davor ist, wieder zu verrutschen, was aber nie billig oder nach male gaze aussah. Selbst das oben seitlich zu sehende Kostüm, das die obere Hälfte des Pos freilässt, über dem Perlen hängen, so dass es aussieht wie ein Dekollete, wirkt nicht albern, sondern stilvoll. Und dass unter dem Kostüm im unteren Bild, das deutliche Anklänge an den Fin de Siècle hat, bevor Frauen in losen Hängerkleidchen die 1920er-Jahre revolutionierten, und unter dem weiten Hut aus den 1950er-Jahren ein Ganzkörperanzug aus Latex getragen wird, ist nur konsequent in seiner wilden Mischung aus Zitaten, Neuem, Öffentlichkeit und Privatsphäre.

Dieses auf der Haut getragene Selbstbewusstsein wurde besonders im letzten Raum deutlich, wo Fotos von Helmut Newton hingen, auf denen Models Mugler trugen – bzw. seine Kleidung über sich oder neben sich drapierten, um weiterhin Haut zeigen zu können, Herrgottnochmal. Ich kann mit Newton wirklich überhaupt nichts anfangen, ich finde seine Ästhetik langweilig, und unterstelle ihm, vielleicht zu Unrecht, dass er nur Fotos machte, damit er nackte Frauen anstarren konnte. Jedenfalls sehen seine Bilder so aus. Ich sehe auf ihnen nie die angeblich selbstbestimmte Frau in seinen jüngeren Models, die unbedingt unbedeckt vor dem alten Mann rumstehen müssen, gerne auf hohen Absätzen. Die sehe ich aber in Muglers Kreationen.

Hier noch ein Zitat aus dem oben verlinkten Gespräch zwischen Mugler und Nochlin:

„Nochlin turned up for their meeting in a West Side apartment wearing red socks patterned with black Scotties. Mugler reacted with mock horror. The photographer taking their picture told him not to wrinkle his brow. “I’m supposed to be the aging intellectual,” Nochlin joked. They went on to talk about images of women, about femininity as an enterprise, about the uses of fashion, which Mugler calls “a trick and a game.” If fashion is in fact “a trick and a game,” what does the game tell us about the women who play it?

MUGLER: So many things. A lot, I think.

NOCHLIN: Well, that’s if you think there’s such a thing as women. I’m more inclined to agree with somebody like Joan Riviere, who was a student of Freud and said that femininity is a condition of disguise. I mean, there may be women, but femininity you dress up for. You learn how to be feminine — it’s not something natural, ever. So I would say that the great designer of clothing is always providing additional disguises to create new forms of the feminine. And I would say that clothes tell you something about the choice of the woman who’s wearing them, but they don’t tell you anything about the quote-unquote real woman, because I don’t think there is a real woman. There’s a real person, but I don’t think it’s a woman.

MUGLER: Very true. There is only the person who chooses to play the feminine role, to experience different aspects of femininity. […]

Linda, it sounds to me as if your theory is not so much that the woman is natural but that the person is natural and the woman artificial.

MUGLER: Not only the woman but the whole mythology of femininity.

NOCHLIN: Exactly. But I would also tie it in to certain postmodernist ideas about the self — that there is no self, even. That the self is a condition of disguise and that we can move back and forth in terms of sexualities, in terms of social being, in terms of all kinds of senses of who we are. And I think fashion helps us wonderfully in this. That’s why, in a sense, I would say that fashion is the postmodern art, because it helps to destabilize the self in such a wonderful way.“

Durch meine aktuelle Faszination mit Selbernähen weiß ich inzwischen, wie anstrengend das ist, zwei Stoffstücke mit geraden Nähten zusammenzubekommen. Daher warfen mich die unglaublichen Nahtbilder in der Ausstellung komplett in eine Sinnkrise. Zu sehen, wie perfekt gefühlt 80 Teile pro Jäckchen zusammengefügt wurden, um die unnachahmlichen Wellen, Kanten und dreidimensionalen Elemente, die in den Raum stoßen, herzustellen, war großartig. Kann man erneut auf meinem unteren Foto nur erahnen, dass die weißen Elemente nicht nur Flächen sind, sondern Formen. Ich war sehr früh entschlossen, den Katalog zu kaufen, solange er halbwegs bezahlbar war, um diese Werke noch länger studieren zu können, aber er kostete 79 Euro und war nur ein großes Bilderbuch ohne Detailaufnahmen oder auch nur unterschiedlichen Ansichten eines Stücks. Dann eben nicht.

Auch Kostüme waren zu sehen, die mir eher egal waren; auf einer Bühne kann man sich austoben, auf dem Laufsteg gibt es wenigstens ein paar Grenzen, denn irgendwer muss Haute Couture in Prêt-à-porter übersetzen. Trotzdem freute ich mich sehr über das einzige Plus-Size-Kostüm, das es zu sehen gab. Auch das war durchaus eine Erfahrung für mich, die es seit Jahren vermeidet, sich allzusehr Kleidergrößen um die 34 auszusetzen, um nicht ständig mit der eigenen Nicht-34 konfrontiert zu werden und in alte, selbstfeindliche Denkspiralen geworfen zu werden. Das ging überraschend gut, vielleicht hat meine derzeitige Social-Media-Nutzung von diversen Haute-Couture-Accounts diese Körperform wieder für mich normalisieren können, ohne sie erneut irreal und für mich unterreichbar zu idealisieren.

Der letzte große Raum zeigte Muglers Insects-Kollektion, bei der er sich von, genau, Insekten und ihren schillernden Oberflächen inspirieren ließ. Die Chimäre, die auf jedem Ausstellungsfoto und natürlich der Website groß zu sehen ist, war toll, aber ich fand diesen Hosenanzug viel toller: Das Wabenmuster im Blazer ist nur auf einer Hälfte zu sehen und dreidimensional gestaltet, die dunklen Linien sind keine Linien, sondern wirklich Einbuchtungen, kleine Zerklüftungen im Stoff. Wie macht man sowas? Das fragte ich mich eh die ganze Zeit und mein Mund stand wahrscheinlich dauernd undamenhaft offen. Aber das sieht unter der Maske ja niemand, ha! Nebenbei wäre diese Ausstellung eine Steilvorlage für Mund-Nasen-Schutz-Verkäufe in Rekordhöhe gewesen, aber darauf ist keiner im Shop gekommen, der in der Kunsthalle eh seltsam ist. Bling und Bleistifte, nichts dazwischen. Bitte nehmen Sie sich alle ein Beispiel an der Albertina oder dem Kunsthistorischen Museum in Wien.

Probleme hatte ich allerdings mit einigen Fotos von Mugler selbst, der seine Modelle gerne an beeindruckender Architektur inszenierte. Mit der Pariser Oper oder dem Chrysler Building kann ich arbeiten, aber zwei gut gelaunte Modepuppen vor die faschistischen Statuen Roms zu stellen, war mir ein bisschen zu wenig nachgedacht. Und auf die erwähnten Newtons hätte ich verzichten können. Dafür hätte ich vom Rest gerne mehr gesehen; in Montreal, einer der anderen Stationen der Schau, stand anscheinend ein bisschen mehr rum. Sei’s drum: große Anschauempfehlung. Vielleicht nicht gleich morgens um 10.