Links von Montag, 10. August 2020

Auf arte concert kann man gerade Igor Levits Beethovenzyklus aus Salzburg nachhören, soweit ich das verstanden habe, jeden Abend live und dann 30 Tage zum Abruf. Ein paar andere Aufführungen aus Salzburg stehen auch online, bitte mal selbst wühlen.

„Was hat Tourismus mit gutem Leben zu tun?“

Ein Gespräch zwischen Nils Markwardt und Valentin Groebner, der gerade ein kleines Buch zum Thema herausgebracht hat.

„M: Schon während der „Grand Tour“ im 18. Jahrhundert führten die jungen Adligen Zeichenblöcke bei sich, um besonders schöne Orte festhalten zu können. Später hatten manche Urlauber dann Fotoapparate dabei und verschickten Postkarten. Heute jedoch hat jeder ein Smartphone in der Tasche und kann seine Eindrücke sofort via Social Media teilen. Hat sich die touristische Erfahrung dadurch noch einmal grundsätzlich gewandelt?

G: Ich werde den Verdacht nicht los, dass sich viel weniger verändert hat, als man auf den ersten Blick hätte erwarten können. Denn auch schon vor dem 18. Jahrhundert gab es Reisende, die sich an ihren Besuchsorten verewigten. In der Grabeskirche in Jerusalem finden sich etwa eingekratzte Namen und Wappen von Pilgern aus dem 14. und 15. Jahrhundert – so viele, dass Reiseberichte aus dieser Zeit sich über diese eitlen Kerle beklagen. Adlige ließen ihr Wappen auch an die Fensterläden jener Wirtshäuser malen, in denen sie übernachtet hatten. Es ging also, ein bisschen wie bei Trip Advisor, darum, zu zeigen, wer hier schon abgestiegen ist. Und Fotografie entsteht dann ja auch nicht zufällig zur selben Zeit wie die Eisenbahn, das Dampfschiff und das Grand Hotel. In den frühen Touristenzielen waren überall Fotoateliers. Die wohlhabenden Besucher von Luzern, Paris oder Florenz wollten vor Ort sofort Fotos von sich – vor standardisierten Hintergründen, aber auch als Joke-Bilder, so wie etwa das berühmte Foto von Friedrich Nietzsche, Lou Andreas-Salomé und Paul Rée, in Luzern in einem Fotostudio geknipst. Das flüchtige Medium Reisen verlangt nach einem stillgestellten Bildbeweis. Zumal noch etwas Zweites dazukommt: Bei Vergnügungsreisen verwandelt man sich, wenn auch nur im eigenen Kopf, in eine reiche Person. Denn man ist ja nicht zum Arbeiten gekommen, sondern um Spaß zu haben. Und den will man anderen zeigen. Das heißt, man schlüpft in eine möglichst amüsante Pose, so wie Nietzsche, Andreas-Salomé und Rée. Wir führen unser eigenes Urlaubstheater auf. Sehr viel anders funktionieren die Selfies, die wir heute verschicken, auch nicht. Nur haben wir das Fotostudio eben in der eigenen Hosentasche.

M: Oft bedeutet Urlaub auch eine Reise in die Vergangenheit. Wir pilgern zu Denkmälern, Museen und historischen Sehenswürdigkeiten. Woher kommt es, dass wir in den Ferien die Geschichte aufsuchen?

G: Unsere Vorstellung vom sehenswerten „Echten“ ist gewöhnlich vorindustriell. Das 19. Jahrhundert machte die Erfahrung, dass sich die eigene Umwelt durch das beschleunigte Wachstum des Industrie- und Fabriksystems rasant veränderte. Die mittelalterlichen Stadtmauern verschwanden fast überall in Europa innerhalb derselben zehn Jahre. Die standen fünf, sechs Jahrhunderte – und wurden dann zwischen 1840 und 1850 abgerissen. Industriestädte dagegen wuchsen innerhalb von 20 Jahren auf die doppelte Einwohnerzahl an. Menschen des 19. Jahrhunderts erlebten Veränderungen in einem Ausmaß, das wir uns kaum vorstellen können. Im 18. Jahrhundert stand noch so viel Altes herum, dass es als nichts Besonderes galt, wenn es nicht antik war. Im 19. Jahrhundert wurden mittelalterliche Überreste dann zur Sehenswürdigkeit, weil sie so rasch knapp wurden. Deswegen musste man sie im Zweifelsfall auch neu bauen. Wenn heute etwas sehr mittelalterlich aussieht, stammt es im Zweifelsfall aus dem 19. Jahrhundert.“

Neuerdings ist die Spelling Bee bei der NYT fies schwer, weswegen ich jetzt kreuzworträtselsüchtig bin. Als Abonnentin kann ich auch das ganze Archiv leerlösen. Ha!

Zwei lange Stücke über die USA und ihren zumindest derzeit so wahrgenommenen Niedergang, einmal aus dem Atlantic, einmal aus dem Rolling Stone.

How the Pandemic Defeated America

In diesem Artikel geht es hauptsächlich um das Gesundheitssystem der USA, das durch COVID-19 übermäßig in Anspruch genommen wird. (Der Artikel ist nicht hinter einer Paywall wie alle zu Corona bei unter anderem dem Atlantic, der NYT, der Washington Post oder dem New Yorker. Ich runzele die Stirn zum Beispiel in Richtung Süddeutsche, bei der ich erst durch den Uni-Zugang einen Artikel über die (eher geringe) Ansteckungsgefahr in Zügen lesen konnte, danke auch. Hmpf.)

„But the COVID‑19 debacle has also touched—and implicated—nearly every other facet of American society: its shortsighted leadership, its disregard for expertise, its racial inequities, its social-media culture, and its fealty to a dangerous strain of individualism. […] Despite its epochal effects, COVID‑19 is merely a harbinger of worse plagues to come. The U.S. cannot prepare for these inevitable crises if it returns to normal, as many of its people ache to do. Normal led to this. Normal was a world ever more prone to a pandemic but ever less ready for one. To avert another catastrophe, the U.S. needs to grapple with all the ways normal failed us. It needs a full accounting of every recent misstep and foundational sin, every unattended weakness and unheeded warning, every festering wound and reopened scar. […]

At the end of the 20th century, public-health improvements meant that Americans were living an average of 30 years longer than they were at the start of it. Maternal mortality had fallen by 99 percent; infant mortality by 90 percent. Fortified foods all but eliminated rickets and goiters. Vaccines eradicated smallpox and polio, and brought measles, diphtheria, and rubella to heel. These measures, coupled with antibiotics and better sanitation, curbed infectious diseases to such a degree that some scientists predicted they would soon pass into history. But instead, these achievements brought complacency. “As public health did its job, it became a target” of budget cuts, says Lori Freeman, the CEO of the National Association of County and City Health Officials.

Today, the U.S. spends just 2.5 percent of its gigantic health-care budget on public health. Underfunded health departments were already struggling to deal with opioid addiction, climbing obesity rates, contaminated water, and easily preventable diseases. Last year saw the most measles cases since 1992. In 2018, the U.S. had 115,000 cases of syphilis and 580,000 cases of gonorrhea—numbers not seen in almost three decades. It has 1.7 million cases of chlamydia, the highest number ever recorded.“

Der Rolling Stone schreibt über die Rolle der USA als Weltmacht, die keine mehr ist.

The Unraveling of America

„In a dark season of pestilence, COVID has reduced to tatters the illusion of American exceptionalism. At the height of the crisis, with more than 2,000 dying each day, Americans found themselves members of a failed state, ruled by a dysfunctional and incompetent government largely responsible for death rates that added a tragic coda to America’s claim to supremacy in the world. […]

In the wake of the war, with Europe and Japan in ashes, the United States with but 6 percent of the world’s population accounted for half of the global economy, including the production of 93 percent of all automobiles. Such economic dominance birthed a vibrant middle class, a trade union movement that allowed a single breadwinner with limited education to own a home and a car, support a family, and send his kids to good schools. It was not by any means a perfect world but affluence allowed for a truce between capital and labor, a reciprocity of opportunity in a time of rapid growth and declining income inequality, marked by high tax rates for the wealthy, who were by no means the only beneficiaries of a golden age of American capitalism.

But freedom and affluence came with a price. The United States, virtually a demilitarized nation on the eve of the Second World War, never stood down in the wake of victory. To this day, American troops are deployed in 150 countries. Since the 1970s, China has not once gone to war; the U.S. has not spent a day at peace. President Jimmy Carter recently noted that in its 242-year history, America has enjoyed only 16 years of peace, making it, as he wrote, “the most warlike nation in the history of the world.” Since 2001, the U.S. has spent over $6 trillion on military operations and war, money that might have been invested in the infrastructure of home. China, meanwhile, built its nation, pouring more cement every three years than America did in the entire 20th century.

As America policed the world, the violence came home. On D-Day, June 6th, 1944, the Allied death toll was 4,414; in 2019, domestic gun violence had killed that many American men and women by the end of April. By June of that year, guns in the hands of ordinary Americans had caused more casualties than the Allies suffered in Normandy in the first month of a campaign that consumed the military strength of five nations.“

Für den Satz, dass heutige Jugendliche bis zu ihrem 18. Lebensjahr zwei Jahre vor Bildschirmen verbringen und damit zur sogenannten obesity epidemic beitragen – ein extradoofes Wort inmitten einer echten Pandemie – möchte ich dem Autor allerdings kurz was hinter die Ohren geben.