Ein sieben- oder achtfaches Dankeschön …
… an Franziska, die mich mit wertvoller Sekundärliteratur beschenkte: Lin-Manuel Mirandas und Jeremy McCarters Hamilton: The Revolution, ein dickes Begleitbuch zu diesem Musical da auf Disney, das ich höchstens sieben- oder achtmal gesehen habe. Ähem.
Im Moment ist Hamilton ein verbindendes Glied zu vielen Dingen, die ich lese oder sehe; so erinnerte mich das Buch, wie hier im Blog bereits erwähnt, bei der arte-Serie über die Städte Amsterdam, Neu-Amsterdam/New York und London, daran, dass New York kurz Hauptstadt der Vereinigten Staaten gewesen war. Im Musical kommt die schöne Zeile von Aaron Burr vor: „What did they say to you to get you to sell New York down the river? […] Or did you know, even then, it doesn’t matter where you put the U.S. capital?“, was nebenbei noch ein schöner lautmalerischer Gag mit capital/capitol ist. Der Song heißt The Room Where It Happens, und fast diesen Titel (The Room Where It Happened) trägt auch das vor Kurzem erschienene Buch von John Bolton. Als ich den Titel hörte, überlegte ich, ob das eine feststehende Redewendung sei, bis ich in einem der Trillionen Hamilton-Videos auf YouTube Herrn Miranda hörte, der darob ziemlich entgeistert war. Überhaupt spannend: wie anders sich die Texte lesen nach fast vier Jahren Trump-Administration. Auf den Gedanken ist auch die NYT gekommen:
„“Hamilton” is motivated, above all, by a faith in the self-correcting potential of the American experiment, by the old and noble idea that a usable past — and therefore a more perfect future — can be fashioned from a record that bristles with violence, injustice and contradiction. The optimism of this vision, filtered through a sensibility as generous as Miranda’s, is inspiring.
It’s also heartbreaking. One lesson that the past few years should have taught — or reconfirmed — is that there aren’t any good old days. We can’t go back to 1789 or 2016 or any other year to escape from the failures that plague us now. This four-year-old performance of “Hamilton,” viewed without nostalgia, feels more vital, more challenging than ever.“
Was mir auch erst durch das Musical aufgefallen ist: wie seltsam Wahlen sind, wenn man sie vom Standpunkt einer nicht-wählenden Gesellschaft aus sieht. So singt der stets indignierte König George III, als Washington sich nicht mehr zur Präsidentschaftswahl aufstellen lässt:
„They say
George Washington’s yielding his power and stepping away
Is that true?
I wasn’t aware that was something a person could do
I’m perplexed
Are they going to keep on replacing whoever’s in charge?
If so, who’s next?
There’s nobody else in their country who looms quite as large.“
Auch hier wieder so eine kleine Idee, die fast untergeht: dass Abtreten nicht zu einem königlichen oder kaiserlichen Selbstverständnis gehört. Und eben die Tatsache, dass wir unsere Staatsführungen ständig neu aufstellen anstatt Leute, die es können, einfach weitermachen lassen.
Was hier im Video untergeht, weil es keine bewegten Bilder hat: die air quotes, also die Anführungszeichen, die der König beim Wort „country“ macht. Die USA waren noch nicht lange eine Gemeinschaft, ein Land oder sogar eine Weltmacht wie das Vereinigte Königreich. Daran musste ich denken, als ich einen Absatz in der Hamilton-Biografie von Chernow las. Wir befinden uns im Jahr 1787, und die Gründungsstaaten sind damit beschäftigt, die neu geschriebene Verfassung zu ratifizieren: Sie tritt in Kraft, wenn neun der dreizehn Staaten sie abnicken. Zu ihrer Verteidigung und Erläuterung hatte unter anderem und größtenteils Hamilton die Federalist Papers geschrieben, die auch im Musical erwähnt werden. Auch dazu hat Chernow eine Information, die ich spannend fand: Mit dem 85. Essay „ended the most persuasive defense of the Constitution ever written. By the year 2000, it had been quoted no fewer than 291 times in Supreme Court opinions, with the frequency of citations rising with the years.“ (S. 260)
Zurück zu den Conventions der einzelnen Staaten, welche die Verfassung nun beschließen müssen. Hamilton war Abgeordneter des Staates New York und verteidigte sie dort in den Versammlungen. Sein Gegenspieler war Gouverneur George Clinton, der nicht mit einer starken Staatsregierung einverstanden war und lieber den Einzelstaaten mehr Macht zusprechen wollte. Chernow:
„Governor Clinton argued that the United States covered so vast a territory and possessed such a variety of peoples ‚that no general free government can suit‘ all the states. In rebuttal, Hamilton outlined his visions of American nationalism, showing that a true nation, with a unified culture, had been fused from the diverse groups and regions of the original colonies. In all essential matters, ‚from New Hampshire to Georgia, the people of America are as uniform in their interests and manners as those of any established in Europe.‘ A national interest and a national culture now existed beyond state concerns. This was an assertion pregnant with significance, for if America already constituted a new political culture, they needed a new order to certify that reality. And the Constitution bodied forth that order.“ (S. 265)
Dass bei diesen Interessen sämtliche Anliegen der Ureinwohner ignoriert wurden, erwähnt Chernow nicht, wobei ich ahne, dass diese gar nicht als „amerikanisch“ wahrgenommen wurden. Ich fand es spannend zu lesen, dass ein so junges Staatengefüge angeblich schon eine gemeinschaftliche Kultur bzw. eine gemeinsame politische Grundhaltung verspürte oder sie sich zumindest auf die Fahnen schrieb. Gleichzeitig ist es bemerkenswert, dass man Ende des 18. Jahrhunderts die Einflüsse vieler unterschiedlicher Menschen anscheinend zu würdigen wusste, während in den heutigen USA der weiße Mensch des Mittleren Westens die Messlatte ist, an der sich bitte alle orientieren sollen.
An die Conventions musste ich erneut denken, seit die US-Post in den Schlagzeilen ist; ihre Mittel sollen gekürzt werden, damit Briefwahl schwieriger wird. (Mir fällt derzeit nur das Wort „absurd“ zu so ziemlich allem ein, was da drüben passiert.) Der New Yorker hat einen schönen historischen Überblick über die Post, nur so als Einschub. Worauf ich hinauswollte: Auch in Virginia tagte eine Convention, und Hamilton ahnte, dass New York vermutlich gegen die Verfassung stimmen würde. Seine Taktik: alle möglichst lange bis zur finalen Abstimmung hinhalten, bis Virginia ja gesagt hatte, denn dann würde sich New York vielleicht verpflichtet fühlen, ebenfalls zuzustimmen. Und wie wurde er darüber informiert, wie’s Virginia so ging? Durch Postreiter.
In der letzten Woche hielten die Demokraten ihre Convention ab, um Joe Biden offiziell zum Präsidentschaftskandidaten zu küren. Durch meine Woche in der alten Heimat bekam ich weniger mit als sonst, weil’s da halt vor Ort Wichtigeres gibt, aber die Rede von Michelle Obama las ich durch und sah auch das erste Video der Veranstaltung: The Rising von Bruce Springsteen. Die NYT kommentierte zum ersten Tag der Convention:
„The opening video was beautifully done: unifying, patriotic, diverse. Democrats offered the nation less identity politics than an American identity. It was an effort to make former Republicans like me feel emotionally comfortable with Joe Biden’s Democratic Party. No real hectoring, lecturing or cultural condescension. Oh, and the Springsteen music video, “The Rising,” was great. The people who produced the opening night are not only talented; they have the right theory of the case. Or at least they did on the first night.“
Auch hier wieder: American Identity. Ich ahne nach vier Jahren Trump, dass es eben diese Identität nicht gibt oder sie jede:r anders auslegt, womit es einfach ist, andere als „nicht-amerikanisch“ zu bezeichnen. Ich finde es spannend, wie oft ich inzwischen Dinge anders sehe, weil mir Musical und Buch einen großen historischen Bogen geöffnet haben.
Um an den ersten Absatz anzuschließen: Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.