Tagebuch Samstag, 19. September 2020 – Oktoberfestchen
Gestern wäre eigentlich die Wiesn eröffnet worden, ab 12 Uhr hätte man auf der seit Monaten vom Aufbau belegten Theresienwiese ein kleines Bierchen gezapft bekommen und so ein, zwei Leute wären vielleicht mitgebummelt. Das fällt dieses Jahr alles aus, was einige Münchner:innen und vermutlich noch mehr Zugezogene (hier!) bedauern.
Daher hatten F. und ich uns zu einer Winzwiesn verabredet. Um halb zwölf stand ich bei ihm auf der Matte mit vom Lieblingsmetzger frisch belegten Leberkässemmeln, er hatte zwei Augustiner-Wiesenbiere kalt gestellt und um 12 zapften wir an bzw. ließen die Kronkorken ploppen. Auf eine friedliche Nicht-Wiesn.
Danach bummelten wir zum Ballabeni, unserer Lieblingseisdiele, um uns Nachtisch abzuholen. Für uns beide gab’s die neue Sorte „Vier Nüsse“, die nur nach Walnuss schmeckt, aber ich mag Walnuss, wie praktisch, dazu für mich eine Kugel Chai Latte, für den Herrn Amarena-Kirsch.
Wo wir schon mal bei den Pinakothen waren, schauten wir kurz in der Pinakothek der Moderne vor (die ich immer im ersten Anlauf „Modernde“ schreibe, es tut mir leid!). Dort empfängt einen eigentlich ein helle Rotunde, in die von oben Licht fällt. Jetzt gerade nicht, denn Anish Kapoor hat den kompletten Eingangsbau mit einer riesigen schwarzen Gummikugel namens Howl zugeballert. Es ist ein bisschen spooky, sich mitten unter die Kugel zu stellen, und ich bedauerte das Kassen- und Servicepersonal, dass ihnen nun ein bisschen Licht fehlt, aber ich mochte diesen Blob recht gerne.
(Nur aus der Hüfte geknipst. Gehen Sie mal vorbei, kostet nix. Hier sind eindeutig bessere Fotos.)
Gesättigt, bierbeschwingt und kunstbeflügelt schlenderten wir zum Königsplatz, auf dem seit Monaten der sogenannte „Sommer in der Stadt“ stattfindet. Weil den ganzen Fressbüdchen und Fahrgeschäften das Geld wegbricht, durften sie anstatt auf der Theresienwiese in der ganzen Stadt ihre Häuschen und Karussells aufbauen, unter anderem am Königsplatz. Meine geliebten Propyläen haben jetzt ein Riesenrad als Vorbau, den vermutlich jede Münchner Instagrammerin bereits abgelichtet hat – ich aber noch nicht. Ich habe auf extra-matschiges Mittagslicht gewartet. F. hat dafür mit Stativ tolle bunte Bilder vom sich bei Nacht drehenden Rad gemacht, die ich mir irgendwann als Fototapete auf den Flur hängen werde.
Eigentlich habe ich Höhenangst, aber ich erinnerte mich, schon mal auf dem Oktoberfest Riesenrad gefahren zu sein. Da war ich allerdings vermutlich ein winziges bisschen angeheitert und es war dunkel, so dass ich außer der buntblitzenden Fressgasse eh nichts sehen konnte. Nun war es hell – und es ging sehr hoch. Mir wurde sofort etwas kodderig, aber ich hielt mich einfach an allem fest, was ging, atmete in mich rein (das Sport-Übungsprogramm der letzten Wochen hatte diesen netten Nebeneffekt) und konzentrierte mich auf Dinge, die in der Ferne lagen und nicht 800 Millionen Meter direkt unter mir. (48 Meter.)
So bestaunte ich das Zeltdacht des Olympiastadions, das am Horizont aufragte und machte ein nicht-vorzeigbares Foto. Die Türme der Frauenkirche ohne Gerüst, auch mal schön. Das goldgelbe Lenbachhaus von oben war dann wieder unter meinen Füßen, aber allmählich gewöhnte ich mich an die Höhe; das Rad fuhr uns insgesamt viermal über die Stadt. Einmal blieben wir stehen und zwar fast ganz oben, das nutzte ich, um endlich mal mein geliebtes Bällebad mit seinen drei Oberlichtern von oben zu begutachten. Zwei davon sind über den Lichthöfen, eins über meinem Lieblingslesesaal. Erst von oben fielen mir die doch recht üppigen Ausmaße des ZIs und der danebenliegenden Musikhochschule auf (langjährige Mitleser:innen wissen: Das waren mal das NS-Verwaltungsgebäude und der sogenannte „Führerbau“, in dem das Münchner Abkommen unterzeichnet wurde). Das NS-Dokumentationszentrum wirkte von oben sehr schmal zwischen den beiden Klötzen.
Was ich besonders toll fand, nachdem ich mich damit abgefunden hatte, aus unglaublicher Höhe in den Tod zu stürzen, war, auf Augenhöhe mit den Propyläen zu sein. Da wäre ich gerne mal stehengeblieben, aber ich ahne, dass ich die einzige der wenigen Mitfahrenden gewesen wäre, die gerne ein Steinfries vor Augen gehabt hätte. Den Tauben geht’s auf dem Klotz übrigens super, überall wo keine Netze die 160 Jahre alten Reliefs schützen, machen die kleinen Racker es sich gemütlich. Würd ich auch.
Meine traditionelle Handlung auf dem Oktoberfest: gebrannte Mandeln kaufen. Auch das wurde erledigt und dann gingen wir für den Rest des Tages getrennte Wege. Ich freute mich über das 3:1 von Augschburg gegen Union und wunderte mich bei der Übertragung, dass das Stadion an der Alten Försterei recht voll aussah, aber total leer klang. Trotzdem war es wirklich schön, wieder Fans im Stadion zu hören und keine dusselige Tonspur mit alten Aufnahmen oder die umheimliche Stille wie Freitag in der Allianz-Arena, an die ich mich schon fast gewöhnt habe.
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Ruth Bader Ginsburg, Supreme Court’s Feminist Icon, Is Dead at 87
Langer und lesenswerter Nachruf auf Bader Ginsburg in der NYT. Unter anderem wegen Absätzen wie diesem hier, der sehr simpel verdeutlicht, worum es geht – nicht um ein Gleichmachen, sondern ein Gleichbehandeln.
„In this majority opinion, the most important of her tenure, Justice Ginsburg took pains to make clear that the Constitution did not require ignoring all differences between the sexes. “Inherent differences between men and women, we have come to appreciate, remain cause for celebration,” she wrote, “but not for denigration of the members of either sex or for artificial constraints on an individual’s opportunity.” Any differential treatment, she emphasized, must not “create or perpetuate the legal, social, and economic inferiority of women.”
Oder diesem hier, der daran erinnert, dass Sexismus keine Relikt aus längst vergangenen Zeiten ist, sondern von vorgestern und – leider – von heute.
„[Her mother] Celia Bader was an intellectually ambitious woman who graduated from high school at 15 but had not been able to go to college; her family sent her to work in Manhattan’s garment district so her brother could attend Cornell University. She had high ambitions for her daughter but did not live to see them fulfilled. She was found to have cervical cancer when Ruth was a freshman at James Madison High School, and she died at the age of 47 in 1950, on the day before her daughter’s high school graduation. After the graduation ceremony that Ruth was unable to attend, her teachers brought her many medals and awards to the house.
On June 14, 1993, when Judge Ginsburg stood with Mr. Clinton in the Rose Garden for the announcement of her Supreme Court nomination, she brought tears to the president’s eyes with a tribute to her mother. “I pray that I may be all that she would have been had she lived in an age when women could aspire and achieve and daughters are cherished as much as sons,” she said. […]
Harvard Law School was a challenge for women even in the best of times. There were no women on the faculty. During Ms. Ginsburg’s first year, the dean, Erwin Griswold, invited the nine women in the class to dinner and interrogated each one, asking why she felt entitled to be in the class, taking the place of a man. Ruth stammered her answer: that because her husband was going to be a lawyer, she wanted to be able to understand his work.”