Tagebuch Donnerstag bis Sonntag, 24. bis 27. September 2020 – Überschätzt
Am Donnerstag nutzte ich die elektrische Schiebehilfe für Papas Rollstuhl, um ihn einen Berg hochzukriegen, damit wir mit dem Mütterlein auf den Markt gehen/fahren konnten. Das Ding funktioniert über eine Art Toter-Mann-Schalter, also einen Kipphebel am rechten Handgriff des Rollstuhls, den man ständig gedrückt hält, damit es schiebt oder zieht, das Teil hat nämlich auch einen Rückwärtsgang. Sobald man den Hebel loslässt, steht der Stuhl oder sollte es zumindest. Abrupt bremsen ist allerdings doof, denn Papa ist nicht angeschnallt, hat aber einen Keil zwischen den Beinen, damit er nicht herausrutscht. Das tat er am Anfang mehrmals, weil er nicht mehr weiß, dass er eine linke Körperhälfte hat und er sich dementsprechend nur einseitig irgendwie aufrecht hält. Die Geschwindigkeit steuert man über ein Drehrädchen, das man mit dem Daumen bedienen kann, während der Zeigefinger den Kipphebel hält. Es funktioniert nicht ganz stufenlos, so dass ich interessiert feststellen konnte, dass die Anzeige 75 für mein Gehtempo zu langsam, 80 aber schon zu schnell ist.
Das Mütterchen erhoffte sich ein paar persönliche Ansprachen auf dem Markt, weil Papa dort früher – also vor anderthalb Jahren – regelmäßig eingekauft hatte. Es waren wohl auch Leute da, die ihn kannten – ich kannte natürlich niemanden –, aber es kam niemand auf Vaddern zu, was Mama erboste. Mich weniger, ich ahne, dass viele Menschen nicht damit umgehen können, wenn einem die möglicherweise eigene Verletztlichkeit so vor Augen geführt wird. Ich wäre auch weggeblieben, muss ich zugeben.
Also schoben wir ohne Begrüßungen, aber mit Obst und Gemüse in unseren Rucksäcken wieder nach Hause.
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Den Nachmittag verbrachte ich damit, einen Zwetschgenkuchen mit Hefeteig zu backen und nölte etwas zu ausgiebig über die Küche und ihre Gerätschaften rum. Ich entschuldigte mich, weil ich ja weiß, dass es Quatsch ist, aber mich machen Arbeitsumgebungen kirre, die ich mir nicht selbst eingerichtet habe. Mama meinte, das hätte ich von Omi, die hätte auch immer in fremden Küchen gemeckert: „Wieso steht das nicht da, wo es hingehört?!?“ Yay, ich habe von Omi noch mehr geerbt als nur mein Lieblingsgeschirr!
Die weiße Tischplatte gehört zu Papas Beistelltischchen, das der Nachbar gebaut hat. Er bockte dazu einen normalen quadratischen Tisch auf vier Untersetzstangen auf, so dass Papa nun mit dem Rollstuhl und vor allem dessen hohen Armlehnen unter einen Tisch passt. Jetzt kann er „geradeaus“ essen und muss nicht immer seitwärts zu seinem Teller sitzen. (Und wir müssen nicht immer den Küchenfußboden saugen, fegen oder wischen, nachdem Papa gegessen hat.)
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Freitag hatte ich eigentlich einen Vormittag für mich eingeplant, denn ich habe morgen einen wichtigen Termin, auf den ich mich noch etwas besser vorbereiten wollte; das meiste hatte ich schon in der letzten Woche in Bibliotheken erledigt, aber so ganz top fühlte ich mich noch nicht. Dummerweise kam ein weiterer Termin dazwischen, den ich nicht eingeplant hatte, aber wahrnehmen wollte. Damit war der Vormittag weg, nachmittags ist Arbeiten für sich selbst nicht möglich, weswegen ich etwas nervös wurde und, warum auch immer, plötzlich sehr nah am Wasser war. Momentan habe ich einige Bälle in der Luft, die teilweise voneinander abhängen und es macht mich nervös, dass ich nicht vernünftig für die nächsten Monate planen kann, weil die Entscheidungen nicht von mir abhängig sind. Das Mütterlein beschloss daraufhin, mich am Sonntag nach Hause zu schicken. Geplant war eigentlich, dass ich direkt von Hannover zum Termin fahre, aber ich war am Freitag schon so übermüdet und eben unvorbereitet, dass mir das wie eine sehr gute Idee erschien.
Ich hatte mal wieder unterschätzt, wie sehr man bei meinen Eltern fremdbestimmt ist. Den Tagesablauf von Papa kenne ich natürlich inzwischen, und ich habe mir auch ein Dokument angelegt, in dem ich eben diesen Plan minutengenau notiert habe, damit ich es immer wieder weiß. Was ich aber vergessen hatte: wie unterschiedlich Papa von Tag zu Tag und von morgens im Vergleich zu abends drauf ist. Mal geht er abends sofort ins Bett, wenn wir „Feierabend“ sagen, mal hält er einen bis 23 Uhr wach, weil er nach einem ruft und Angst hat, weil er vergessen hat, wo er ist. (Er bekommt ein mildes Schlafmittel, sonst kämen wir nie ins Bett.) Ich hatte vergessen, wie anstrengend es ist, völlig sinnfreie Unterhaltungen zu führen, wenn man ihn nicht einfach drei Stunden vor dem Fernseher parken will, was ich nicht will (und Mama auch nicht). Ich hatte unterschätzt, wie angeschlagen ich von DER GESAMTSITUATION bin und dass es mich anscheinend gerade doppelt so viel Kraft kostet, in der Wedemark zu sein als sonst. Ich hatte launig im Hinterkopf gehabt, dass ich dort auch schon an der Diss arbeiten konnte und daher optimistisch gesagt, dann spare ich mir zwei Zugfahrten und fahre von Hannover aus zum Termin und von da nach München, aber diese Idee zerbröselte ab Tag 1. So saß ich gestern im Zug, fing schon im Auto meiner Schwester, die mich zum Zug brachte, dauernd an zu heulen und heulte auch im Zug, keine Ahnung warum, Überforderung und akute Übermüdung, tippe ich laienpsychologisch. Ab Göttingen hatte ich dann einen lauten Vierertisch neben mir, der die Maskenpflicht umgang, indem erstmal alle ein paar Bierchen köpften, woraufhin ich mich umsetzte, weil ich sonst mit Dingen geworfen hätte.
Im Zug hatte ich dann auch mal Zeit, über die andere Gesamtsitutation nachzudenken. Meiner Mutter geht es gesundheitlich immer schlechter, weil sie natürlich auch ständig übermüdet ist. Einen Platz in der Tagespflege für Papa zu finden, damit sie wenigstens mal ein paar Stunden ohne Verantwortung sein kann, entpuppte sich in den vergangenen Monaten als unmöglich, und jeder gibt andere Gründe an, warum Papa nicht kurzfristig in ihr Heim könne. Die Krankenkasse hat ihre Kur abgelehnt, aber das scheinen Krankenkassen einfach per Default zu machen, wir legen natürlich Widerspruch ein. Ihre geplanten Kurzurlaube verschiebt sie von Monat zu Monat, und im Moment ist es eh schwierig wegen DER GESAMTSITUATION. Eigentlich hatte sie sich eine Deadline von Ende 2020 gesetzt, um für sich selbst zu gucken, wie lange sie das noch kann, aber so wie ich sie einschätze, hat längst ihre Kriegskindmentalität mit dem „Augen zu und durch und wir stellen uns da mal gar nicht an“ eingesetzt. Auch meine Schwester und ihr Mann können nicht alles abfangen, obwohl sie sehr viel aushelfen, und falls ich demnächst ganz möglicherweise eine Festanstellung finde, werden meine monatlichen Trips auch schwieriger. Nicht unmöglich, davon gehe ich jetzt mal bockig aus, aber schwieriger.
Und Vaddern macht mir auch Sorgen. Er schläft nicht mehr wie früher ausgestreckt, sondern verkeilt seine Beine ineinander, es sieht ein bisschen nach Embryonalhaltung aus. Er kann nicht mehr so gut unterscheiden, was Fernsehen und was Realität ist – noch ein Grund mehr, ihn nicht dauernd davor zu setzen –, und es fehlt ihm schlicht der Umgang mit anderen Menschen, auf die wir in der Tagespflege gehofft hatten. Er kam mir noch weniger kohärent vor als sonst; wo er in den vergangenen Monaten vormittags eigentlich immer so halbwegs bei sich war, fiel es ihm nun schon schwerer, Worte zu finden oder sich zu merken, dass ich nur nebenan in der Küche bin und er nicht dauernd nach mir rufen muss.
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Am Samstag ließ ich ein bisschen Fußball für uns laufen, die dritten Programme übertragen teilweise die dritte Liga. Weil ich nicht Rostock gucken wollte, wurden es die 1860er, wofür ich mich natürlich bei meiner FC-Bayern-Leserschaft entschuldigen möchte.
Per Handy verband ich dann meinen Laptop mit dem Interweb, das bei meinen Eltern ja immer noch nicht per Kabel vorhanden ist, und fand einen total legalen Stream für das Augsburg-Spiel. Die Herren gewannen überraschend gegen Dortmund, weswegen ich zwischenzeitig gute Laune hatte. Papa freute sich auch, fragte aber dauernd, welche denn die Münchner seien. Mama freute sich, dass ich mich freute und dass mal eine andere Stimme in der Küche zu hören war. Ich erklärte Sky und Bezahlfernsehen und erfuhr, dass sie auch immer auf die Augsburg-Ergebnisse gucken, weil sie ja wissen, dass F. und ich da zusammen hinfahren.
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Es musste noch ein zweiter Kuchen gebacken werden, wenn schon mal Hefe im Haus ist. Der Nachbar hatte wieder kiloweise Äpfel rübergebracht, die teilweise eingekocht wurden und teilweise auf dem Backblech landeten. Um Papa zu beschäftigen, bat ich ihn, mir aus der Kiste die gelben rauszusuchen, „nicht die grünen“, und die möglichst großen und die ohne Stellen. Je länger der Tag dauert, desto mehr benutzt Papa Worte, die es nicht gibt, oder baut solche, die es gibt, in Sätze ein und wir raten dann, was er meinte. Irgendwann gab er mir einen Apfel und meinte, der habe „nur ganz wenige … Erlebnisstellen“, womit er die braunen Stellen der Falläpfel meinte. Das twitterte ich, weil ich den Begriff so schön fand, aber ich ahne, dass die meisten, die diesen Tweet favten, nicht wussten, dass es kein poetisches Wort war, sondern schlicht eins aus einem Gehirn, das mehrere Schlaganfälle hinter sich hat.