Tagebuch Mittwoch, 23. September 2020 – Bissniss und Mundharmonika
Vormittags hatte ich einen Termin im uralten Heimatstädtchen. Eigentlich wollte ich die S-Bahn nehmen, die aber ausfiel; netterweise stand die Nachbarin meiner Eltern mit mir am Bahnsteig und fragte, ob sie mich mit dem Auto in die Stadt mitnehmen solle. (Mir fällt gerade der Ausdruck „in die Stadt“ auf. Wir haben nie gesagt: „Ich fahr mal nach Hannover“, egal ob per Auto oder Bahn, sondern immer „ich fahr in die Stadt“. Alternativ „Warst du grad in der Stadt?“)
Die Dame setzte mich am Kröpcke ab und ich fand blind den Weg zur U-Bahn-Station, was mich selbst erstaunte. Die Station mit ihren drei Stockwerken erschien mir nicht mehr so einschüchtern wie früher als Kind, wo ich dachte, dass die Rolltreppen nie aufhören. Von dort ging’s zum Aegi, dann zum Braunschweiger Platz. Ich hatte dort früher in der Nähe gewohnt und fragte mich jetzt, zwanzig Jahre zu spät, wieso ich immer bis zur U-Bahn-Station Marienstraße gegangen bin, wo doch Braunschweiger Platz viel näher liegt. Das war allerdings eine Zeit, in der ich auch die 200 Meter bis zum Bäcker mit dem Auto zurückgelegt habe. Vermutlich wusste ich nicht mal, dass da hinten eine U-Bahn-Station war, ich Depp.
Bissnisstermin wahrgenommen, wieder mit U- und S-Bahnen nach Hause gefahren, das Mütterlein holte mich sogar vom Bahnhof ab.
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Nach der Mittagspause lungerte ich ein wenig bei Papa im Zimmer rum, er beschwerte sich über seine Socken, ich fragte, ob ich ihm neue anziehen solle, was er bejahte. Papas Zimmer war früher das Esszimmer, es liegt im Erdgeschoss, nach oben kommt er ja leider nicht mehr. Der Esstisch steht jetzt in der Diele, wo früher Papas repräsentativer Schreibtisch stand. Der steht jetzt in seinem Zimmer und beinhaltet keine Akten mehr, sondern seine Kleidung und die vielen Dinge, die das Pflegepersonal braucht. In der einzigen Schublade liegen seine Socken – und wie ich gestern feststellte, auch seine Mundharmonika, die er schon als Kind gehabt hatte, leicht rostig. Ich fragte Papa, ob er noch spielen könne und reichte ihm das Instrument. Ohne zu zögern spielte Papa eine Melodie, die ich nicht erkannte, aber es war eindeutig eine Melodie mit erkennbarem Takt und kein sinnloses Rumtröten. Das freute mich sehr. Nach einem Lied hatte er aber keine Lust mehr, noch ein zweites zu spielen.
Er fragte mich, wo ich die Mundharmonika denn her hätte, woraufhin ich meinte, die lag im Schreibtisch. Woraufhin er sagte, er hätte auch mal eine Mundharmonika gehabt, die hätte auch immer in seinem Schreibtisch gelegen. Als ich meinte, das sei genau die, hat er mir nicht geglaubt.
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Nachmittags war die Ergotherapeutin da, was das Mütterlein und ich nutzten, einkaufen zu fahren. Dieses Mal durfte ich ans Steuer des neuen Autos und war ziemlich begeistert. Hoher Einstieg for the win! Ich habe in meiner Autofahrerinnenkarriere stets gebrauchte und gerne mal sehr alte Karren gefahren (still missing Rocky), weil ich nie verstanden habe, warum man so viel Geld für eine neue Schüssel ausgeben soll. Deswegen bin ich bei modernen Autos auch immer davon überfordert, wie schnell man schnell fährt. Ich habe mehr auf die Geschwindigkeitsanzeige als auf die Straße geachtet, glaube ich. Schönes Auto, das Auto.
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Abends war Papa ausnahmsweise direkt nach Ende des üblichen Naturfilms müde und rief auch nicht mehr eine Stunde lang nach einem, weil er wieder vergessen hatte, wo er ist. Daher sprachen das Mütterlein und ich dem Rosésekt vielleicht etwas zu enthusiastisch zu, wie ich heute merkte, als der Wecker klingelte. Das war aber ein schöner Abend, weil wir einfach klönen konnten. Beim letzten Besuch hatte sie jeden Tag Termine, weswegen sie lieber nichts trinken wollte und nicht ausschlafen konnte, und ich habe doch erstaunt festgestellt, das mir das gefehlt hat, mit ihr zu quatschen.
(Bist ne alte Kuh, lernst immer noch dazu.)