Tagebuch Montag, 12. Oktober 2020 – Autobahn und Apfelkuchen

Das tagelange Hin- und Herschieben von Zeug und Themen und Stichpunkten im Hinterkopf hat funktionert: Gestern schrieb ich meinen Vortrag fürs Doktorandenkolloquium fast in einem Rutsch runter, bastelte die Präsentation dazu und bin bis jetzt recht zufrieden. Gebt mir noch zwei Tage, bis ich wieder alles umschmeiße.

Mittendrin buk ich einen kleinen Apfelkuchen, weil zwei Äpfel doch allmählich dringend wegmussten. Weil ich aber so ins Referat vertieft war, vergaß ich den Kuchen im Ofen und bemerkte es erst, als die Wohnung nicht gut nach Kuchen, sondern latent angebrannt roch. Inzwischen hatte sich mein Magen aber so sehr auf Apfelkuchen vorgefreut, dass ich genervt einen zweiten ansetzte. Dafür mussten zwei Äpfel dran glauben, die eigentlich noch ein bisschen Zeit dekorativ in der Obstschale in der Küche hätten verbringen können, aber it is what it is.

Philosophy in the Shadow of Nazism

Ein Buchtipp des New Yorker, der mich natürlich gleich mit der Headline im Newsletter ködern konnte. Es geht ganz grob um den Wiener Kreis und wie sich nach umwälzenden Erfahrungen (wie hier dem Ersten Weltkrieg) neue Denkweisen ergeben bzw. verstärken – mit guten oder schlechten Ergebnissen.

„David Edmonds’s new book, “The Murder of Professor Schlick: The Rise and Fall of the Vienna Circle” (Princeton), offers a lively and accessible introduction to this much written-about group. Rather than plumbing the depths of the Vienna Circle’s work, which is formidably technical, Edmonds mainly explores how its ideas reflected the group’s tumultuous time and place. His research has also uncovered important new biographical information, including about its lesser-known female members. […]

Edmonds’s subtitle, “The Rise and Fall of the Vienna Circle,” suggests a closer connection between the group’s work and the titular murder than the book actually establishes. Schlick’s death had nothing to do with his ideas; he was killed by a psychotic former student, Johann Nelböck, who had been stalking and threatening him for years and finally shot him, in June, 1936, on the steps of a university building. But what happened next, Edmonds shows, was indeed shaped by what the Vienna Circle had come to represent in the ideological frenzy of interwar Austria.

No sooner had news of the crime broken than the nationalist, anti-Semitic press began to extenuate and even to praise it as a blow against degenerate Jewish thought. Schlick was accused of damaging “the fine porcelain of the national character” and of embodying Jewish “logicality, mathematicality, [and] formalism,” qualities inimical to “a Christian German state.” One writer urged that the murder should “quicken efforts to find a truly satisfactory solution of the Jewish Question.” Nelböck, at his trial, played to this sentiment, claiming that he had killed Schlick for ideological reasons. That defense didn’t keep him out of jail, but after Nazi Germany annexed Austria, in 1938, Nelböck was released, on the ground that his crime had been inspired by “strong national motives and explicit anti-Semitism.”

In this deranged atmosphere, no one was deterred by the fact that Schlick was not Jewish but, rather, a German Protestant. Some of his defamers probably didn’t know this, but others simply didn’t care, since in their eyes Jewishness wasn’t defined only by religion or ethnicity. It was also a mind-set, characterized by the modernism and liberalism they saw as sources of spiritual corruption.“

Nicht kaschierte Distanz – Zum Tod von Ruth Klüger

Christiane Frohmann ruft nach.

„Außerordentlich war, dass Ruth Klüger Trennendes – grundsätzliche Unvereinbarkeit ebenso wie temporäre Meinungsverschiedenheiten – nicht mit Höflichkeit kaschierte. Wo es kein Wir gab, wurde es spürbar, und wenn sie etwas falsch oder unangemessen fand, sagte sie es. Eine Frau, die sich nicht die ganze Zeit entschuldigt, ist auch heute noch ungewöhnlich. In Kombination mit ihrer distanzierten Ausstrahlung hat dies auf viele Menschen wohl so irritierend gewirkt, dass man ihr das Etikett »schwierig« verpasste.

Ich habe Ruth Klüger 2011 in eben dieser Erwartung kennengelernt, auf eine schwierige Person zu treffen. Das Gegenteil war der Fall. […] Beim anschließenden Essen im Restaurant fragte sie mich die üblichen Sachen, die Frauen im akademischen Rahmen einander fragen. »Kinder?« »Ja.« »Promoviert?« »Irgendwann aufgehört.« Kopfschütteln, nicht über mich, sondern über das System. Ich bat sie, mir die Geschichte mit dem übergekippten Wein zu erzählen. Ein Kollege hatte ihr, wohl weil sie zuvor auf Avancen von ihm nicht eingegangen war, hinter ihrem Rücken Antisemitismus unterstellt, was sie so empörte, dass sie ihm bei einem Universitäts-Event ein Glas Weißwein übergoss. Meine Vermutung, welcher »faule, aber gescheite Kafka-Forscher“ sich hinter S. in unterwegs verloren (2008) – dort wird die Begebenheit wiedergegeben – verbarg, erwies sich als richtig. (Der reale S. war der erste Professor gewesen, von dem ich bei meinem Studienjahr in den USA hörte, dass er bei Sprechstunden die Bürotüre offen stehen lassen musste, 20 Jahre vor #metoo.) Ruth Klügers Rat, einen so dickaufgetragenen Auftritt nur einmal im Leben hinzulegen, habe ich beherzigt, er steht uns allen noch bevor.“

Ein bisschen Quellenkunde der Bundesrepublik.