Tagebuch Mittwoch, 2. Dezember 2020 – Die eBook-Falle
Gestern hatte mich der Schreibtisch wieder: Ich las die beiden Gutachten zur Dissertation erneut aufmerksam durch und bastelte zunächst einen Hauch an einer geänderten inhaltlichen Aufteilung; die lasse ich vermutlich, so wie sie ist, aber ich wollte das mal durchspielen und bin von der Alternative noch nicht überzeugt. Dann orderte ich einen Schwung Bücher für das traute Heim; die Bibliotheken in München/Bayern sind derzeit geschlossen, die wissenschaftlichen netterweise nicht, daher könnte ich sogar ins ZI, aber momentan bin ich lieber zuhause. Einen Klassiker der Männerforschung konnte ich nicht leihen, der war sowohl in UB als auch in der Stabi in allen Exemplaren ausgeliehen, aber ich bin eh nicht sicher, ob ich das Thema wirklich noch in die Arbeit einfließen lassen möchte (steht ansonsten natürlich im ZI).
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Zum Mittag gab es dasselbe wie schon am Vortag: einen Crêpe aus Kichererbsenmehl, mit Gemüse gefüllt und einem zähen Sößchen drüber, denn die vorgestern angebrochene Kokosmilch musste weg und irgendwie hatte ich doch keine Lust auf Reis oder Curry. Das Grundrezept stand in meinem neuen philippinischen Kochbuch, schmeckte sehr gut.
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Abends verfolgte ich eine Diskussion der Bayerischen Akademie der Wissenschaften per Livestream: „In Stein gemeißelt? Erinnerungskultur im öffentlichen Raum“ (nicht online). Moderatorin Kia Vahland schrieb zum Thema vor einiger Zeit in der SZ:
„Vielmehr gilt es, en détail zu diskutieren, welche Gedenkstücke – etwa Kriegerehrungen – Tafeln und Gegenbilder benötigen, die sie historisieren und so die Gegenwart doch noch auf Distanz zur Geschichte bringen. Diese Debatte ist in Deutschland nun bei den Straßennamen angekommen, über die in etlichen Städten eigene Kommissionen beraten. Auch hier stellt sich bei jedem Verdächtigen die Frage: Würdigt eine Ehrung der Person auf Briefköpfen und Schildern einen Täter, der nationalsozialistisches, koloniales, anderes Unrecht verantwortet? Oder handelt es sich um historisch gewachsenes Kulturgut, das man nicht ohne Not eigenen Maßstäben unterwerfen sollte?
Jede Kommune muss selbst um diese Fragen ringen. Das ist auch deshalb schwierig, weil sich in der öffentlichen Diskussion Verteidiger des Althergebrachten und Reformer in viel zu harten Fronten gegenüberstehen. Die einen wollen eine “Mohrenstraße” noch retten, obwohl ein solch kolonial anmutender Sprachgebrauch schwarzen Passanten wehtun muss. Die anderen stellen auch eine “Erich-Kästner-Straße” infrage, weil der Schriftsteller während der NS-Zeit nicht emigriert ist. Es ist jedoch illusorisch, von Toten zu verlangen, alle jetzigen Ansprüche zu erfüllen. Genauso naiv wäre es aber, Straßennamen wie Museumsstücke zu behandeln, die lediglich eine andere Zeit bezeugen – schließlich wirken sie im öffentlichen Raum, ganz gegenwärtig.“
Die Erich-Kästner-Straße in München wurde gestern auch erwähnt, hier ein eher fassungsloser Kommentar der FAZ vom Januar. Mirjam Zadoff berichtete von der Kommission, die sich mit der Kontextualisierung oder der Umbenennung von Straßen befasste. Sie erwähnte auch die NS-Bauten am Königsplatz, die nach 1945 bewusst mit den Institutionen besetzt wurden, die noch heute in ihnen residieren: die Musikhochschule sitzt im ehemaligen „Führerbau“, unter anderem das ZI im NS-Verwaltungsgebäude. Ich erwähnte hier schon öfter, dass mir der Ort durchaus bewusst ist, in dem ich so gerne durch Bücherregale streife; das kann einem auch kaum entgehen, dass die Türstürze gefühlt drei Meter hoch sind, die Treppenhäuser zu breit und der Blutwurstmarmor des Fußbodens dem im Haus der Kunst bewusst ähnelt (gleicher Architekt). Zadoff zitierte, wenn ich mich richtig erinnere, Ruth Klüger, die meinte, Gebäude an sich seien nie böse, es käme auf die Menschen an, die sie bewohnen, was ich für eine sehr richtige Sichtweise halte. Teresa Koloma Beck erwähnte aber ebenso richtig, dass Gebäude, Straßennamen, Denkmäler ins Heute abstrahlten, dass sie also trotz allem gut gemeinten Kontext immer noch heute nicht mehr akzeptiertes Gedankengut in sich hätten und das in die Gesellschaft trügen. Spannende Diskussion.
Zadoff, deren NS-Dokuzentrum direkt neben dem ehemaligen Führerbau steht, erwähnte auch die Dreharbeiten, die dort vor Kurzem stattgefunden haben, Max Westphal fotografierte eine Szene an der Feldherrnhalle. Im Gebäude wurde das Münchner Abkommen unterzeichnet; das wurde nachgestellt, und sie meinte, trotz allem Wissen darüber, dass es ein Film war, das Gebäude nur noch (?) eine Kulisse, wäre das doch arg seltsam gewesen, wieder Hakenkreuzflaggen daran zu sehen. Ich musste an die Skurrilität denken, dass für die Dreharbeiten die Erinnerungstafel an eben dieses Abkommen, die sich am Gebäude befindet, genau dafür abgenommen werden musste.
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Für die inneren Notizen für nächstes Jahr, wenn ich hoffentlich wieder darüber nachdenke, welchen Adventskalender von Xocolat ich möchte: Vorgestern Cassis, gestern Nougat, natürlich beides hervorragend. Ich habe derzeit den ohne Alkohol.
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Und dann fiel ich abends auf ein eBook für 99 Cent herein. Auf Netflix läuft gerade die, soweit ich das überflogen habe, hochgelobte Serie The Queen’s Gambit. Sie beruht auf einem Buch von Walter Tevis, und ich las einen Artikel im New Yorker darüber: The Fatal Flaw of “The Queen’s Gambit”, der meint, die Serie hätte die Hauptfigur mit einer zu attraktiven Darstellerin besetzt.
„Actors Are Too Hot Hill is a silly place to die, yet the acclaim for “The Queen’s Gambit” series, which stars an actual former model, has stranded me there, unable to descend until I have said my piece. Allow me to shout from my lone perch at its summit that Beth Harmon is not pretty, and there is no story about her that can be told if she is. […]
Tevis mentions Beth’s ugliness too often for readers to imagine that it is just some routine, awkward part of childhood that slips away with puberty, like a boy’s squeaky tones settling gradually into a mannish timbre, or because some nice girlfriend—she has none, after Jolene—takes her to Sephora. Instead, Beth becomes reasonably attractive by learning to play chess and then excelling at it. The first moment that Beth is able to regard her reflection without disgust comes right after she wins her third tournament game. Some forty pages later, a chess player turned journalist named Townes tells Beth, “You’ve even gotten good-looking.” Toward the end of the book, Jolene herself, seeing Beth in magazines, declares, “You’ve lost your ugly.” […]
Here is the book’s most explicit mention of Beth’s physical confidence as an adult: “Beth was wearing a dark-green dress with white piping at the throat and sleeves. She had slept soundly the night before. She was ready for him.” Chess helps her to inhabit her body comfortably, and this allows her to play better chess. It’s the playing-better-chess part of the deal that really matters to her.“
Das interessierte mich dann doch, ich las die ersten Sätze in diesem kleinen Buch, fand sie gut, kaufte das eBook und wollte im Bett vor dem Schlafengehen nur noch ein paar Seiten lesen. Dann war es plötzlich 2 Uhr morgens, ich auf Seite 90 und ihr entschuldigt mich, ich muss wieder an … äh … die Diss. Natürlich. Die Diss.