Tagebuch Weihnachten 2020 – Neue Bilder
Da ist man jahrelang quengelig, wenn man Weihnachten durch die Gegend fahren und im alten Kinderzimmer übernachten muss, anstatt zuhause zu sein und in Ruhe für sich zu kochen, aber in diesem Jahr hätte ich ersteres gerne gemacht. Aufgrund DER SITUATION blieb ich aber brav in München und bat meine Schwester, sich doch per Video von meinen Eltern aus zu melden, damit ich sie wenigstens sehe. Das Väterchen war seit dem 22. wieder zuhause; er hatte drei Wochen in der Kurzzeitpflege verbracht, damit das Mütterchen, die seit über anderthalb Jahren 24 Stunden am Tag für meinen Vater da ist, mal schlafen kann. Stattdessen hat sie Kekse gebacken und geputzt, aber die Prioritäten muss jede*r selbst setzen.
Ich war Ende November nochmal im Norden gewesen, um sie zu unterstützen, Infiziertenzahlen hin oder her. Muttern, Schwester und ich hatten natürlich schon länger über die Möglichkeit gesprochen, Papa kurz in andere Hände zu geben, damit sie zur Ruhe kommen kann. Einen Platz in einem Pflegeheim zu finden, ist aber nicht ganz einfach, wie wir erfahren mussten, und als einen Freitag der Anruf kam, dass Papa ab dem Montag darauf einen Platz hätte, hatte meine Mutter das total überfordert. Man wünscht sich diese Option sehr, aber als sie dann plötzlich greifbar war, fiel es ihr doch sehr schwer, sich zu entscheiden. DIE SITUATION machte das ganze nicht einfacher, denn natürlich haben wir ewig diskutiert, ob man gerade jetzt einen Platz im Heim wahrnehmen sollte. Die Alternative wäre vermutlich ein Zusammenbruch vom Mütterchen gewesen, die schlicht nicht mehr konnte, wer will es ihr verdenken. Also packte ich einen Tag nach meiner Verteidigung überraschend den Koffer und konnte meinen Titel nicht ganz so entspannt genießen wie gedacht, aber es gibt Wichtigeres. In der Woche übernahm ich den Job, Vaddern im Heim, das wir nie so genannt haben, abzuliefern; er musste per Krankentransport kommen. Ich gab Auskunft über medizinische Dinge, erklärte den Tagesablauf zuhause, was sein Lieblingsessen ist und was er so sein Leben lang gemacht hat, damit die Pflegenden ein paar Themen hatten, auf die sie ihn ansprechen konnten. Meine Mutter war seelisch nicht in der Lage, das zu tun, und so doof das alles war, so sehr hat es mich gefreut, eine wirkliche Hilfe sein zu können. Papa weiß nicht mehr, wo er ist, ihm gefiel es da gut, das Essen war prima (davon konnte ich mich mehrere Tage überzeugen), das Haus war gut gepflegt, soweit ich das beurteilen kann, und er hatte zwei Bekannte dort, die ihn aber erst nach 14 Tagen besuchen durften, davor war er natürlich in Quarantäne. Solange ich noch da war, fuhr ich täglich hin, danach übernahmen wieder SchwesterSchwager und nach ein paar Tagen auch Mama, der das wirklich schwer fiel. Ich habe sie noch nie so erschüttert gesehen wie in den Tagen, an denen ihr klar wurde, dass sie keine Kraft mehr hat, so sehr sie sich auch anstrengt, und dass sie nicht die ganze Welt alleine stemmen kann.
Nochmal zu den Prioritäten: An meinem ersten Abend im Norden sammelte das Mütterlein gerade Kerzen und Laternen aus dem ganzen Haus zusammen, um sie an verschiedenen Fenstern aufzustellen, als ich ankam; das war eine Idee im Dorf gewesen – damit nicht alle am Totensonntag auf den Friedhof rennen, sollten alle Kerzen in ihre Fenster stellen. Schöne Idee, aber natürlich eine irre Arbeit, wenn man, wie Mama, nicht nur eine Kerze, sondern unbedingt achthundert anzünden will. Als ich etwas irritiert davon war, dass sie sich Extraarbeit zu der vielen macht, die sie eh schon hat, meinte sie: „Ich will nicht immer nur das machen, was ich muss, sondern auch mal, was ich möchte.“ Daraufhin habe ich meine Klappe gehalten und am nächsten Tag stillschweigend die ganzen rußigen Mistviecher wieder eingesammelt, geputzt und die Kerzenreste rausgekratzt, was ihr erst ein paar Tage später aufgefallen ist, als sie das erledigen wollte.
Seit dem 22. Dezember war Papa wieder zuhause, was für ihn aber keinen großen Unterschied mehr macht. Ich hatte in den letzten Monaten schon das Gefühl, dass sein Gehirn noch mehr runterfährt, dass er teilweise retardiert in alltäglichen Dingen, dass er sich auf einfache Laute oder Gesten fokussiert, wie ein Kind, das gelernt hat, dass man sich um es kümmert, wenn es „Aua“ sagt. Ich trug natürlich immer Mundschutz, und meist hat er mich nicht erkannt. Auch deshalb wäre ich Weihnachten gerne im Norden gewesen, bevor er gar nicht mehr weiß, wer ich bin.
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Ich war seit dem 22. Dezember mit Vorbereitungen für das Menü von F. und mir beschäftigt. F. hatte sich netterweise dafür entschieden, den Heiligen Abend mit mir zu verbringen, was mich sehr gefreut hat. Daher hatte ich eigentlich zu viel zu tun, um traurig zu werden, aber am 24. erwischte es mich dann doch. So sehr es mich freute, mal wieder mehrere Gänge zu kochen und die große Tischdecke zu bügeln, die sonst nur im Schrank liegt, so memmig war ich auf einmal drauf.
Dagegen half Essen in Gesellschaft ein bisschen, und gerade, als wir mit dem Hauptgang fertig waren und verdauen mussten, um noch Mousse nachschieben zu können, meldete sich der Norden per Video. Vaddern war schon von der Pflege ins Bett gebracht worden, der Rest der Familie wuselte um ihn herum, der Schwager hielt das Tablet, ich reichte mein Handy irgendwann an F. weiter, als mein Arm lahm wurde. Wir zeigten uns gegenseitig die geschmückten Bäume, plauderten nur sehr wenig, auch weil Papa nicht mehr ganz versteht, warum ich da auf diesem kleinen Fernseher zu sehen bin, aber für ein „Fröhliche Weihnachten und bis bald“ hat es noch gereicht. Wenige Minuten später schickte mir meine Schwester noch ein kleines Video. Ich hatte ihr ein paar Baumornamente in Form von goldenen und roten Hörnern geschickt. Unsere Omi hatte jahrelang Hörner in allen Farben an ihrem Baum, die machten sogar Geräusche, und natürlich spielten meine Schwester und ich sie im Laufe der Jahre kaputt. Meine Schwester hat immer noch ein letztes stummes Horn im Baum als Andenken, aber als ich irgendwann mal zufällig im Interweb auf trötenden Baumschmuck stieß, bestellte ich den sofort. Ich wollte ihn eigentlich in diesem Jahr mitbringen und heimlich in die Bäume hängen, aber nun wurde er verschickt. Im Video von meiner Schwester tröten Papa und Mama auf den Hörnern herum, und man hört Papa noch skeptisch „Was für ein …“ sagen, bevor das Video abbricht, worüber ich sehr lachen musste.
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Ich holte für unser gemeinsames Essen nicht nur die gute Decke aus dem Schrank, sondern schminkte mich auch, gefühlt das dritte Mal in diesem Jahr, und zog die guten Klamotten an. Endlich mal wieder Ohrringe, auf die verzichte ich wegen der Maskenbänder zurzeit immer.
F. hatte seine Kamera dabei, die folgenden Fotos sind von ihm. Ich hätte ihm vielleicht vorher sagen sollen, dass ich im Blog lausige 500 Pixel an Bildbreite habe, weil ich mich immer noch nicht darum gekümmert habe, die Bilder größer zu kriegen (bitte keine Tipps, es ist gerade sehr egal). Er ahnt, dass ich ihn jetzt immer herzitieren werde, sobald ich ein Spiegelei gebraten habe, und bedauert es schon sehr, die Kamera mitgebracht zu haben. Ich hingegen freue mich über lauschige Bilder, die deutlich besser aussehen als die, die ich mit dem iPhone von denselben Motiven hindilettierte.
Wir starteten mit confiertem Thunfisch mit einer milden Peperoni und einer Olive. Eher rustikal als festlich, aber man schmeckt die Orangenschale, mit der das Öl aromatisiert wurde, sehr schön durch. In allen Gängen war irgendeine Zitrusfrucht, daher überlegte ich am Morgen des Heiligen Abends ernsthaft noch, Orangenscheiben im Ofen zu trocknen für die Tischdeko, bis mir einfiel, dass ich keine Einrichtungszeitschrift bin.
Mir fiel erst abends am 23. auf, dass ich direkt nach dem kalten Thunfisch noch eine weitere kalte Vorspeise geplant hatte, was doof ist. Also kochte ich schnell ein winziges Erbsensüppchen, weil ich dazu alles im Haus hatte; es war Ingwer drin und Koriander und oben drauf gab’s Croutons mit frischer Zitronenschale.
Die Terrine aus roter Bete und Meerrettich hatten wir vor ein paar Wochen im Broeding-Außer-Haus-Menü gehabt, die fand ich so toll, dass ich sie nachkochen wollte. Beim Googeln nach einem Rezept stellte ich fest, dass die anscheinend zwischen 2015 und 2017 durch sämtliche Kochblogs gegangen war, hatte ich nicht mitgekriegt.
Der Hauptgang stammt aus dem Winter-Kochbuch von Katharina Seiser. Er sieht bei mir alles andere als toll aus, die Entenbrust hatte nicht lang genug geruht, die Grießklößchen waren offensichtlich von einer Vierjährigen geformt worden, der Ras-el-Hanout-Schaum war nur ein Sößchen, die eigentliche Portweinsauce auch, weil ich sie nicht lange genug eingekocht hatte, aber meine Güte, waren die Aromen toll! Das werde ich dringend nochmal zubereiten und ihr solltet das auch. Das ganze Buch ist gut, aber das wisst ihr ja vermutlich.
Wir hatten mit Rosé-Champagner begonnen, weil man mich damit immer glücklich macht, dann tranken wir einen gnadenlos lieblichen Gewürztraminer zu den Vorspeisen, aber jetzt kam endlich der Rotwein auf den Tisch. F. erzählte, dass er den zum Bachelor-Abschluss in Philadelphia getrunken hatte, schon 1000 Jahre her, aber ich fand das sehr passend in diesem Jahr.
Wir vermissen schmerzlich den Jamai-Käse; da F.s Mutter derzeit selten nach Kempten fährt, von wo sie uns immer kiloweise Käse mitbringt, musste ich gucken, was ich bei Amazon Fresh fand. Der Kräuterkäse aus dem Allgäu war in Ordnung, aber gegen Jamai stinkt halt alles andere kläglich ab. Das Quittenchutney dazu war von F.s Mutter, das mag ich sehr gerne, muss endlich nach dem Rezept fragen.
Das Dessert war wieder aus dem Winter-Kochbuch: Lebkuchenmousse in schicken Zartbitterkugelhüllen. Endlich konnte ich mal die Silikonformen ausprobieren, die ich mir vor Jahren in irgendeinem Masterchef-Kaufrausch mal zugelegt, aber noch nie erfolgreich benutzt hatte. Auch dieses Rezept kommt auf die Gerne-wieder-Liste.
Ich war gegen 22 Uhr schlagartig müde. Es reichte noch dazu, den Geschirrspüler zu füllen und das meiste an Abwasch zu erledigen, denn das erledige ich immer, das ist wie Abschminken, das macht man abends, basta. Danach fiel ich komatös ins Bett. Ich hatte mich noch auf stundenlanges Rumsitzen und Weinleeren mit F. am Küchentisch gefreut, aber dafür reichte leider die Kraft nicht mehr.
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Am 25. wachten wir immer noch gemeinsam auf, bevor sich unsere Wege wieder trennten; F. ging zu Fuß zu seinen Eltern, ich spülte die letzten Gläser ab, aß ein paar Reste und verdämmerte so ziemlich den ganzen Tag auf dem Sofa.
Außerdem lud ich meine Kamera mal wieder auf, die schönen Fotos von F. hatten mich meine iPhone-Fotos aus Faulheit stark überdenken lassen. Ich googelte den Begriff „Tiefenschärfe“ sowie die Bedienungsanleitung meiner Kamera, die sich irritierenderweise nicht in meiner großen Tüte mit allen Bedienungsanleitungen aller Dinge, die ich besitze, befand. Beim Durchwühlen der Tüte fand ich eine Anleitung für eine Kaffeemaschine, die ich längst weggeschmissen habe, sowie die für mein erstes Rad in München, das mir geklaut wurde. Beide Anleitungen ins Altpapier geworfen. Das war mein Tagwerk.
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Am 26. wachte ich wieder zur gewohnten Arbeitstagszeit auf, das war in Ordnung. Ich stellte die Espressomaschine zum Vorheizen an, öffnete ein paar Fenster und lungerte noch im Bett rum, das fühlt sich immer so schön nach Zauberberg an unter der warmen Decke, während es um mich herum kalt wird. Tagsüber: Lesen, Kekse backen, mit der Kamera (und dem iPhone) Kekse fotografieren, dabei alle lustigen Einstellungen ausprobieren, die die Kamera hergibt. Abends kam F., der mir ein bisschen mehr über seine Einstellungen erzählte, wir machten ein paar Probefotos, und dann tranken wir die letzte Flasche Wein, die ich aus Hamburg mitgebracht hatte, das war’s jetzt mit dieser Stadt.
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Ich dachte gestern länger über die Fotos von F. nach, deren Motive ich ja auch fotografiert hatte, allerdings aus anderen Perspektiven und mit anderem Fokus. Mir fiel auf, dass ich seit Jahren mein Leben abbilde, hier im Blog, drüben auf Insta, und dass ich dabei – natürlich – immer einen persönlichen Blickwinkel habe. Das ist jetzt kein irre tiefer Gedanke, aber es war schlicht ungewohnt, mein Leben – meine Küche, mein Besteck, meine Mahlzeiten – von jemandem anders abgelichtet zu sehen.
Ich ahne, dass F. über andere Dinge nachdachte, als er meine Gerätschaften fotografierte als ich, wenn ich das tue. Ich achte auf Dinge im Hintergrund, die ich nicht herzeigen will, räume das Essen auch gerne an andere Plätze in der Wohnung, damit das Bild besser aussieht (Lichtstimmung, Untergrund etc.). Ich will nicht alles zeigen, genau wie ich nicht alles erzähle. Mir fiel wieder die Diskrepanz zwischen meinem normalen Dasein und dem winzigen Ausschnitt auf, den ich im Blog anbiete. Natürlich weiß ich, dass die allermeisten von uns sich so im Internet bewegen, dass wir alle auswählen und dass alle Insta-Posts von den ganzen Einrichtungsblogs, denen ich folge oder die mir über den Hashtag #interors oder ähnlich in die Timeline gespült werden, ebenso nur ein Ausschnitt sind, aber mir wurde mal wieder deutlich klar, wie inszeniert ich inzwischen vieles wahrnehme. Und dass es eben nicht „das Leben“ ist, sondern nur ein Abbild eines Ausschnitts, der bewusst und nicht spontan gewählt wurde.
Sue twitterte am 25., dass sie es schön fände, dass wir alle am Handy oder am Rechner hingen und dass so niemand wirklich alleine sei: „Das war nie ein Ersatz für Irgendwas hier, sondern immer Digitale Heimat. Wenn ich heim will, kann ich also auch hier her kommen.“ Diesen Gedanken hatte ich auch schon öfter: Wenn alles den Bach runtergeht, habe ich immer noch das Internet, meine Leser*innen, meine Blogs und Accounts, denen ich folge. Aber momentan fühlt es sich – für mich – nicht mehr danach an. Es ist nicht mehr das kleine Lagerfeuer, um das wir mal gestanden und uns Storys aus der Jugend erzählten, es ist stattdessen ein sorgfältig kuratiertes Feuerwerk geworden. Damit will ich nicht den üblichen Verfall von Dingen beklagen, die mal Insiderwissen waren und nun vom Mainstream besetzt sind, sondern nur für mich festhalten, dass das Internet eben nicht das Leben ist, die Menschen darin zum allergrößten Teil nicht meine Freunde, und dass Accounts einen in sehr vielen Fällen nicht trösten können, wenn einen der eigene Vater nicht mehr erkennt.