Tagebuch Mittwoch, 14. April 2021 – Zoom, Buch, Telefon

Gestern war der 3. Internationale Tag der Provenienzforschung. Ich ignorierte den Rest der Welt und sah vormittags den Zoom-Präsentationen des Münchner Staatsarchivs sowie des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zu. Die zwei weiteren Archive schenkte ich mir, weil ich beim Lieblingsbäcker vorbestellt und um 11 dann doch allmählich Hunger hatte. Eigentlich wollte ich auch aus der Buchhandlung meine zwei vorbestellten Bücher abholen, aber die war irritierenderweise noch geschlossen. Ich wartete ein paar Minuten und radelte dann ohne Bücher, aber immerhin mit Brötchen und Brot nach Hause.

Landbrot mit viel Kirschmarmelade, eine Runde Earl-Grey-Tee, dann war ich bereit für die nächste Sitzung. Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen informierten über ihre Recherchen zum Fall Cornelius Gurlitt und über zwei Werke, die über dessen Vater Hildebrand Gurlitt in die Sammlung gekommen. Ich mochte die Art der Präsentation, weil ich gerne Quellen angucke, die hier gekonnt und spannend vorgestellt wurden.

Im Anschluss gab es eine Art „Frag die Expert:innen“, bei denen Chat-User:innen einige Kunsthistoriker:innen bzw. Kurator:innen fragen konnten, so wie gleich die erste Nutzerin: Sie wüsste von zwei Werken, die mal ihrer Großtante gehört hätten – wo fange ich überhaupt an? Für mich waren die Antworten aus dem Museum Fünf Kontinente am spannendsten, weil ich mich mit Provenienzen aus ehemaligen Kolonialgebieten eher selten beschäftige. Dort kam zum Beispiel die Frage auf, ob man eigene Bestandsbücher online stellen sollte, die teilweise rassistische Bezeichungen reproduzierten. Oder ob man Abbildungen von Objekten im Internet veröffentlichen und damit für alle sichtbar machen sollte, während die Objekte ursprünglich möglicherweise nur einem kleinen Kreis in bestimmten Kontexten zur Verfügung standen. Über solche Fragen denke ich in meiner Arbeit eher selten nach.

Zwischendurch pingte mein Handy und zeigte mir das schon verbloggte Buch in der Packstation an; nun war auch die Buchhandlung geöffnet, und ich kam glücklich mit drei Büchern wieder nach Hause.

In der vorletzten Sitzung des Tages sprach Sabine Brantl vom historischen Archiv im Haus der Kunst über die Großen Deutschen Kunstausstellungen und vor allem die Künstlerkartei, die ab 1938 geführt wurde (die erste GDK war schon 1937). In der Kartei wurde über jede:n Künstler:in, der oder die sich die Einreichungsunterlagen zur GDK für eine Reichsmark schicken ließ, eine Karte angelegt. Wurden wirklich Werke eingereicht, wurden die dort per Nummer vermerkt. Die Nummern korrespondieren mit den sogenannten Einreichungsbüchern, die im Hauptstaatsarchiv liegen, aber leider längst nicht vollständig sind. In diesen Büchern wurden Künstlernamen und Werktitel notiert und eben eine laufende Nummer vergeben. Außerdem wurde meist vermerkt, welche der Werke abgelehnt, angenommen oder für eine spätere Hängung vorgemerkt wurde. Die GDK wurden mit den Jahren immer länger, die GDK 1943 dauerte bis Februar 1944, teilweise wurde die Hälfte der Werke währenddessen ausgetauscht.

Auf den Karten wurden diese Nummern nochmal annotiert, wodurch ablesbar ist, welche Werke von den eingereichten angenommen, zurückgestellt oder verkauft wurden. Was ich noch nicht wusste: Auf wenigen Karten findet sich ein „E“ für „entartet“. Leider konnte keines dieser Werke als Abbildung präsentiert werden, weil zu ihnen die ausführlichen Einreichungsbücher fehlen, in denen ein Titel ersichtlich ist, nach dem man nun auf die Suche hätte gehen können. Von Protzen wurde 1940 ein Gemälde ausgesondert, das Hitler bei seinem Rundgang vor der Eröffnung als „modern“ bezeichnete; ich kann trotz Karte, Werkverzeichnis und Fotos in Alben im Nachlass nicht sagen, um welches Werk es sich gehandelt hat. (Raten könnte ich, aber das habe ich unterlassen.)

Protzens Karteikarte hatte ich von Frau Brantl im ersten Lockdown per Scan zugeschickt bekommen, weil ich natürlich nicht ins Haus durfte. Am Ende des Vortrags stellte sie noch drei Karten von Künstlerinnen vor, die erste war Henny Protzen-Kundmüller: „Von ihr ist Ihnen vielleicht eher der Ehemann bekannt, Carl Theodor Protzen, der mit Bildern zur Autobahn bekannt wurde, nach 1945 die Münchner Künstlergenossenschaft gründete und dann eher gegenstandslos malte.“ (Nein, nicht vollständig gegenstandslos.) „Soweit ich weiß, entsteht zu ihm auch gerade eine Arbeit.“ Da nutzte ich dann doch erstmals die Chatfunktion bei Zoom und ergänzte, dass meine Arbeit in diesem Jahr erscheinen wird und bedankte mich auch gleich für die Scans aus dem März 2020.

In der letzten Veranstaltung, die vom Bayerischen Nationalmuseum angeboten wurde, ging es um die sogenannte Silberabgabe 1938 bzw. die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens. Das Museum besitzt noch 112 Objekte aus dieser Aktion und war in den letzten Jahren sehr erfolgreich, was Restitutionen anging. Den Vortrag konnte ich leider nicht ganz verfolgen, weil das Mütterchen anrief.

Eigentlich hätte ich am Sonntag in den Norden fahren sollen. Deswegen hatte ich seit Tagen Bauchschmerzen, weil die Inzidenzzahlen gerade so irre ansteigen und wir quasi wieder da sind, wo wir um Weihnachten waren. Erinnert ihr euch, der Wellenbrecher-Lockdown? Bald sollten wir T-Shirts drucken, um uns an ihn zu erinnern. Hmpf.

Ich wollte nicht von mir aus absagen bzw. meine Mutter fragen, ob ich wirklich kommen muss und wie es ihr so geht, denn dann hätte sie sofort ihren Kriegskind-„Wir stellen uns da mal gar nicht an“-Modus aktiviert. Also sagte ich nichts, buchte meinen Zug und übte, zwei FFP2-Masken übereinander zu tragen. Gestern rief sie aber von sich aus an und meinte, die Zahlen würden ihr Sorgen machen; ihr ginge es gut und Papa auch. Der hat netterweise seit einigen Wochen für zwei Tage pro Woche einen Platz in der Tagespflege. Er wird morgens noch zuhause versorgt und dann abgeholt und verbringt den Tag bis in den Nachmittag in einer Gruppe. Neulich erzählte er, es sei ein Orchester dagewesen; meine Mutter fragte in der Gruppe nach: Da waren vier Bläser vorbeigekommen, die Volkslieder gespielt hatten. Ihm gefällt es anscheinend sehr gut, und meine Mutter kann immerhin ein bisschen Zeit für sich haben.

Ich fragte trotzdem lieber nochmal bei meiner Schwester nach, ob es Mama wirklich gut ginge, das wurde bejaht, bleib zuhause, komm, wenn du vollständig geimpft bist, mach ich.

Sehr erleichtert. Auch wenn ich es schade finde, dass ich jetzt nicht dabei sein kann, wenn Papa nächste Woche geimpft wird: Der Hausarzt hat endlich Stoff bekommen und kommt vorbei.

Den Abend verbrachte ich dann mit Florian Zinneckers Buch über Igor Levit: Hauskonzert; ein bisschen twitterte ich während des Lesens.

Ich ahne, dass das Buch, das Ende 2019 geplant wurde, anders hätte werden sollen, vermutlich eine Konzertreise um den halben Globus, durchsetzt mit den Diskussionen um Levits politisches Engagement und seine Online-Präsenz. Stattdessen ist es nun eher ein Dokument des Stillstands mit plötzlichen hektischen Ausbrüchen, so wie vermutlich einige von uns das letzte Jahr verbracht haben. Levits Biografie und musikalische Ausbildung wird halbwegs chronologisch erzählt, ist aber immer durchsetzt vom heutigen Levit, was ich sehr spannend fand. Zinnecker schreibt fast panisch darüber, dass Levit sich an seine Vergangenheit angeblich nicht erinnert und befragt daher die Mutter, was eine schöne Außensicht ist. Denn im Prinzip spricht Levit das halbe Buch, manchmal von Zinnecker paraphrasiert, aber sehr oft in eigenen Worten.

Trotzdem schafft das Buch eine gewisse Distanz, es ist kein langer Insta-Post, vielleicht weil eben der Autor ab und zu aus der Beobachterrolle tritt und ganz kurz Teil der Handlung (oder des erzählten Schreibprozesses) wird. Es waren mir allerdings deutlich zu viele Absätze im Text, man muss nicht aus jeder Zeile eine Pointe machen.

Echt nicht.

Aber natürlich erzeugt das einen gewissen Sog: Was kommt jetzt?

Und das klappt dann doch wieder ganz gut. Aus den vielen Absätzen und Splittern und Erinnerungen formt sich ein Bild von Levit und vor allem seiner Kunst, das offensichtlich eine Momentaufnahme sein möchte. Wenn Levit damit kokettiert, dass er sich an sein früheres Ich nicht erinnert, kann dieses Buch auch nichts anderes sein als die Abbildung eines Jetzt-Zustands. Es erzählt eher beiläufig von der Pandemie, viel mehr von den Anfeindungen, die Levit durch rechte Kreise erfährt, und vor allem vom Leben eines Pianisten, das sich, das lese ich jedenfalls raus, von dem anderer Pianisten unterscheidet. Es ist keine Biografie und kein endgültiges Urteil, und es hat mir genauso gut gefallen wie die Podcasts und natürlich vor allem die Hauskonzerte, in denen Levit so viel geteilt hat.

Leseempfehlung. Und vermutlich auch Hörempfehlung, denn jetzt muss ich viele erwähnte Stücke ergoogeln.