Donnerstag, 15. April 2021 – Zeithorizont
Ich wühle mich erneut durch den Diss-Text, lieber noch ein letztes Mal drübergucken, bevor das Manuskript an den Verlag geht. Wobei ich da eh auf Ansage warte, in welchem Format und in welcher Auflösung der Verlag denn gerne meine 130 Abbildungen hätte – die meisten davon existieren bisher nur als Handyfotos von Dingen im Nachlass, Scans aus Bibliotheken oder launigen Blitzfotos der Autobahndirektion Südbayern. Einiges muss ich als anständiges, druckfähiges Material von Museen anfordern, was sicher Zeit und höchstwahrscheinlich Geld kosten wird, aber auch da kann ich noch nichts anfragen, ehe ich nicht weiß, was ich überhaupt brauche. Ich ahne auch, dass bei einigen Abbildungen Kosten und Aufwand den Nutzen übersteigen werden, weswegen ich die rausschmeißen werden muss, was bedeutet, dass ich den Text ändern werden muss uswusf.
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Generelle Stimmung: sehr müde, sehr angestrengt. Mir ist vor einigen Tagen aufgefallen, warum ich das letzte Jahr halbwegs okay überstanden habe: weil ich immer Deadlines vor Augen hatte, die ich nicht reißen konnte. Abgabe der Diss, Verteidigung, überarbeitetes Dokument erneut an Doktorvater – bis Februar war ich schlicht gut beschäftigt. Seitdem sitze ich in fieser Wartestellung, auch was die weitere Lebensplanung angeht, und kann mich nun total darauf konzentrieren, was in der Pandemiebeschäftigung alles schief läuft. Meine Angst vor der Krankheit ist nicht kleiner geworden seit der Erstimpfung, womit ich eigentlich gerechnet hatte. Es ist eher das Gegenteil: Ich habe die erste Hürde genommen, und jetzt bleibe ich am besten regungslos hier sitzen und gehe überhaupt nicht mehr vor die Tür, bis auch die zweite hinter mir liegt. Vermutlich werde ich Baldrian für die erneute U-Bahn- und Busfahrt zum Impfzentrum brauchen, weil ich mir Menschen bis dahin endgültig abgewöhnt habe. Keine guten Aussichten.
Ich trage seit Monaten FFP2-Masken, wenn ich draußen rumlaufe, vermutlich bescheuert, aber ich fühle mich nackt und unsicher, wenn es eine andere Maske oder womöglich gar keine ist. Aufs Fahrrad traue ich mich ohne, weil ich da Abstand zu allen halten kann.
Worauf F. mich allerdings vor ein paar Tagen aufmerksam machte: Ich habe seit der Erstimpfung einen Zeithorizont. Wo sich für die viel zu vielen Ungeimpften (auch F.) das Jahr ewig und unüberschaubar in die Ferne streckt, kann ich sagen: Ab Anfang Juni, wenn mein Impfschutz komplett ist, kann ich wieder in die Bibliothek. Ich kann ins Museum (falls es geöffnet ist). Ich kann in Archive. Ich kann beruhigter Zug fahren. Ich kann in die ganzen Feinkostgeschäfte gehen, die ich mir gerade verkneife, weil ich nicht weiß, wie lange ich dort verweilen muss, während ich beim Edeka nebenan blind einkaufen kann und damit innerhalb von fünf Minuten wieder draußen bin. Ich kann dann auch ohne FFP2 spazierengehen und vielleicht wieder nur die Stoffmaske tragen. Auf Masken werde ich nicht verzichten, denn man sieht es mir ja nicht an, dass ich dann geimpft sein werde, und vielleicht begegnen mir Menschen, die ähnlich panisch sind wie ich, die kann ich dann dadurch beruhigen, dass ich eine Maske trage. Außerdem, ganz ehrlich und unter uns, inzwischen finde ich es angenehm, dass man mich nicht so sehr wahrnimmt und niemand einem ein „Lächel doch mal“ vor die Füße kotzen kann, weil man – Mann – es halt nicht sieht.
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Gerade noch im Bett gelesen, bevor ich an den Schreibtisch kroch: A Kidnapping Gone Very Wrong. Die Story kannte ich noch nicht, und sie verbindet US-amerikanische Außenpolitik mit Einzelschicksalen. Fürchterlich, aber leider unwiderstehlich geschrieben. Ich möchte gar keinen Absatz herausreißen, so schön dicht ist das Ding formuliert.