Tagebuch, Donnerstag/Freitag, 10./11. Juni 2021 – Im Norden
Donnerstag gefühlt den ganzen Tag Zug gefahren. Auf der Strecke München – Hannover wird anscheinend irgendwo gebuddelt, jedenfalls musste ich in Nürnberg umsteigen und zuckelte dann zwischen Fulda und Göttingen über jede Gießkanne unter schmählicher Auslassung von Kassel-Wilhelmshöhe. Das war das erste Mal, dass ich beim Einsteigen in einen Zug nochmal nach der Anzeige außen am Bahnsteig guckte und auf die im Zug – ein Wagen der 1. Klasse war komplett leer, im zweiten saßen zwei Damen. Zu denen setzte ich mich nach dem doppelten Anzeigencheck gut gelaunt und belegte total dreist einen Zweiersitz mit mir und meinem Koffer, wo ich sonst immer brav nur einen Einer buche. So konnte ich zwar nicht den Comfort-Check-in nutzen, aber das war’s wert.
In fünfeinhalb Stunden statt guten vier kann man dann auch deutlich mehr lesen. Oder dösen. Oder sich doch allmählich langweilen, aber dann auf Google die Strecke mitverfolgen. Das ist also Bebra. Kannte ich auch noch nicht.
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Was ich schon auf der Zugfahrt nach Nürnberg am Dienstag feststellte: Durchgeimpft fährt es sich wieder deutlich entspannter Bahn. Wo ich mir in einem Jahr eine vermutlich überzogene Angst vor Menschen antrainiert hatte, gerne vom Bürgersteig auf den Radweg oder sogar die Straße auswich, wenn mir jemand entgegenkam, trotz beidseitiger korrekter Maskenbenutzung, war ich nun gefühlt fast wieder normal entspannt in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Ich hatte mich schon gefragt, ob sich der Zustand wieder einstellt, dass man eben einfach damit klarkommt, in einer Stadt auf viele Menschen zu treffen und in Zügen und U-Bahnen auch und das halt aushält. Ich wage zu behaupten: Ja, das stellt sich wieder ein.
Eine von den beiden Damen hustete eine Zeitlang sehr vernehmlich, und wo ich mich vor einem halben Jahr noch in einen anderen Waggon gesetzt hätte, guckte ich jetzt nur kurz hoch, ob’s ihr gut ging. Das tat auch die andere Dame und ich hörte: „Ich bin geimpft, ich hab mich verschluckt und der Husten liegt auch an den Herztabletten, verdammte Scheiße.“
Es wird.
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Das Väterlein ist seit ein paar Wochen tagsüber von Montag bis Freitag in der Tagespflege, was meine Mutter sehr erleichtert. Er wird gegen 8 abgeholt und kommt gegen 16 Uhr wieder. In der Gruppe wird gemeinsam die Zeitung gelesen, er wird mit Frühstück, Mittag sowie Kaffee und Kuchen versorgt, sie machen Gymnastik (so gut das eben geht), er bekommt seine Physio dort, demnächst kommt ein Streichelzoo vorbei, wie ich gestern erfuhr, und er hält Mittagsschlaf. Dazu wird er aus dem Rollstuhl gehoben, was gut ist, weil er sonst zu lange in ihm sitzen würde. Er versteht nicht mehr, dass er eine theoretisch funktionierende linke Körperhälfte hat, weswegen er gerne schief im Stuhl hängt, wenn man ihm nicht hilft, es zu korrigieren.
Laut Eigenaussage gefällt es ihm sehr gut da, und er mag das Essen, vermutlich auch weil es irre viel davon gibt, wie ich von meinen Besuchen im November weiß. Er ist meist mehr erschöpft als sonst, logisch, aufrecht sitzen kostet mehr Kraft als im Bett zu liegen, das heißt, er schläft abends schneller und besser ein. Auch das hilft meiner Mutter sehr. Das soll jetzt nicht frohlockend klingen, yay, mein Vater ist erschöpft, aber es fühlt sich alters- und zustandsgerechter ein, früher müde zu werden und nicht erst ein Schlafmittel zu brauchen, weil er den ganzen Tag fast nichts machen konnte, was ihn anstrengt.
Ich bin mal wieder da, um das Mütterchen zu entlasten – und um noch 1000 Kleinigkeiten zu erfahren, die ich in wenigen Wochen brauchen werde, denn da fährt sie in die Reha und meine Schwester und ich sind dann zuständig. Eigentlich war die Reha schon für Januar genehmigt worden, aber vor ihrer Impfung wollte sie logischerweise nirgends hin, und wir wollten sie auch nirgends hinlassen.
Ich mache derzeit weiter die Dinge, die ich schon bei den letzten Aufenthalten gelernt habe, auch wenn der Tagesablauf nun wochentags etwas anders ist. Vieles hat aber weiter meine Mutter erledigt und daher renne ich gerade mit meinem Uni-Moleskine und gezücktem Stift neben ihr her, schreibe auf, was sie macht und notiere Dinge wie: Wo ist der Briefkastenschlüssel, wie heißt der Urologe und wo steht seine Telefonnummer, wen rufe ich an, wenn Pflegeprodukt XY fehlt, wann werden hier die Mülltonnen abgeholt und so weiter und so fort.
Große Vorfreude auf drei Wochen im alten Kinderzimmer *hust*. Passt schon. Es ist für einen guten Zweck.
Außerdem weiß ich jetzt, dass Waschmittel hier sehr lange hält.
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Gestern konnte ich meine Mutter erstmals richtig vom Internet überzeugen. Das ist hier nämlich immer noch nicht vorhanden, ich blogge über einen mit dem iPhone erstellten Hotspot und muss vorher die Ecken im Haus suchen, wo LTE ist. Sie telefonierte mit der fünften Ansprechperson, es ging um einen Transport von Vaddern (lange Geschichte), und dann fragte die Dame am Telefon, ob Mama ihr die Genehmigung der Kasse vielleicht einfach fotografieren und mailen könne? Also unterbrach ich kurz den Livestream aus Kassel (Aufzeichnung), wo mein Doktorvater gerade ein paar provokante Thesen zu Werner Haftmann verteidigte, ließ mir von der Dame ihre Mailadresse buchstabieren, fotografierte zwei Seiten, mailte sie rüber und berichtete dem Mütterchen von der Antwort der Dame. Ich glaube, so langsam kann ich sie davon überzeugen, dass gerade E-Mail eine wirklich tolle Sache ist.
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Über den Tag mehrere Dinge im Geiste abgehakt unter „kann ich verbloggen“, aber dann lief Türkei-Italien und ich habe alles vergessen. Donnerstag morgen noch über die EM gemeckert, jetzt wieder froh, Fußball mit Zuschauer:innen gucken zu können. Wie gesagt: Es wird.