Tagebuch KW 29 – There and back again
Die letzte Etappe in der alten Heimat umfasste für mich 12 Tage, am vorletzten Tag kam das Mütterchen aus der Reha wieder zurück – ihre Kur war um eine Woche verlängert worden –, und am letzten Tag reiste ich nachmittags wieder nach München. Ich musste in Würzburg umsteigen, hörte das „Rheingold“ einmal komplett durch und las endlich das dicke Wagner-Buch und empfehle es euch nach 100 Seiten schon allerwärmstens weiter.
(Einschub: Ich erzählte gestern morgen im Bett F. die auch für mich neue Story, dass Wagner das Bayreuther Festspielhaus nur aus günstigen Materialien für eine einzige Spielzeit errichten und dann wieder abreißen wollte. F. nur so schnaubend: „Ein fürchterlicher Mensch!“ Ich mag es sehr, wenn ich F. dazu kriege, mit den Augen zu rollen und sich über irgendwas zu entrüsten. Also wenn ich es nicht bin, über die sich entrüstet werden muss. Wagner geht immer, wie ich inzwischen weiß. Zurück zur Bahnfahrt, wagalaweia:)
In Hannover war ich noch ganz vorne in den ICE gestiegen, was mich immer freut, denn dann komme ich auch in München ganz vorne an, und der Weg zur U-Bahn ist nur ungefähr 300 Meter lang. Durch den Umstieg landete ich aber nun für die letzten zwei Stunden ganz am hinteren Ende zweier miteinander gekoppelter ICEs und stieg so in München gefühlt an der Hackerbrücke aus. Weg zur U-Bahn: MINDESTENS ein Kilometer. Bauchgefühl siegt über Schrittzähler.
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Apropos Schrittzähler: Ich stellte äußerst erstaunt fest, dass ich im Norden täglich um die 10.000 Schritte erreichte, ohne je das Haus zu verlassen. Es ist offensichtlich zu groß bzw. verfügt über viel zu viele Treppen.
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Die zweite Etappe fühlte sich deutlich anders an als die erste. Wo ich beim ersten Mal vom Dasein als Alleinversorgerin für Vaddern mindestens drei, vier Tage völlig überfordert und panisch war, wusste ich dieses Mal, was auf mich zukommt. Daher habe ich auch nur noch zweimal weinen müssen, einmal, weil Papa Dinge (zeitweilig) nicht mehr konnte, die er sonst seit zwei Jahren täglich macht und ich schlicht nicht wusste, wie ich ihm erklären sollte, wie die Tätigkeit „Trinken“ funktioniert, das andere Mal, als eine Pflegerin noch da war und ich das Gefühl hatte, ihr die Arbeit eher zu erschweren als zu erleichtern. (War nicht so.) Es bleibt weiterhin kompliziert, aber das Grundgefühl meiner Schwester und mir vor vier Wochen – ACH DU HEILIGE GROSSE SCHEISSE – wich irgendwann einem halb resignierten, halb aktionistischen „Wird schon, geht doch“. Wir versicherten uns gegenseitig, das alles sehr ordentlich gewuppt bekommen zu haben, ich mit fast finalem Verlagsdokument in Arbeit, sie und ihr Mann mit Vollzeitjobs und einem eigenen Haushalt. Meine Balkonkräuter haben es nicht überlebt, aber ich fand es wirklich albern, F. zu bitten, zweimal am Tag vier 2,50-Euro-Pflänzchen zu gießen.
Auch Papa habe ich gefragt, ob wir uns denn gut um ihn gekümmert hätten, woraufhin er meinte: „Ich habe nichts zu beanstanden.“ Da kam dann wieder eine alte Floskel aus dem Berufsleben durch, die hat er inzwischen auch fast alle vergessen.
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Was sich auch anders angefühlt hat: das Wohnen im alten Elternhaus. Nach zwei Tagen zog ich aus meinem blöden Kinderzimmer (Südseite) in Papas altes Schlafzimmer (Nordseite), hatte nun kühlere Temperaturen, eine härtere Matratze und das Gefühl, erwachsen zu sein. Ich war zum ersten Mal nicht Tochter, sondern Hausherrin, was ziemlich schnafte war.
Wie schon beim ersten Mal genoss ich den Morgenkaffee und den Feierabendsekt auf der Terrasse im Grünen sehr, den Morgenkaffee vielleicht sogar noch mehr, auch wenn er für die innere Uhr viel zu früh gekocht werden musste. Aber auch daran gewöhnte ich mich, wobei mir das im Winter vermutlich deutlich schwerer gefallen wäre, um 5.45 Uhr aufzustehen. Dafür war ich abends immer um 21.30 Uhr im Bett, und weil es immer noch kein Internet gibt, konnte ich auch keine Zeit in ihm verdaddeln oder vor Netflix versinken. Insgesamt drei Bücher durchgelesen, das obige Wagner-Ding immerhin angefangen. Weiterhin in Etappen lese ich das Buch über philippinische Esskultur; nur den (gekürzten) Klassiker von Friedländer habe ich in vier Wochen nicht angefasst.
Um den Garten kümmerten sich eher Schwester und Schwager, die dort vor allem Dinge erledigten, die nicht gehen, wenn das Mütterchen da ist. Nun gibt es an einer Stelle des Gartens endlich einen gepflasterten Weg, wo vorher nur ein huckeliger Trampelpfad war, auf dem wir das Mütterlein innerlich ewig hatten stürzen sehen. Außerdem muss sie nun nicht mehr drei uralte Sprenger und tonnenschwere Schläuche quer über das Grundstück zerren und mit gefühlt 17 Weichen in unterschiedlichen Durchmessern miteinander verbinden. Der tolle Schwager verlegte ein neues System; nun muss man nur noch den Wasserhahn aufdrehen und an einigen leicht zu bedienenden Wippen den jeweiligen Sprenger anwählen, der gerade arbeiten soll. Das kapierte sogar ich und ließ es am vorletzten Abend ordentlich regnen. (Beim Sekt.)
Im Haus sorgte ich hingegen für Ordnung und warf behutsam weg; es wird dem Mütterchen vermutlich nicht auffallen, dass von den 20 aufgehobenen leeren Kartons fünf fehlen, ein paar fledderige Kinderbücher oder dass das Programm der hannöverschen Theater von 2006 jetzt auch im Altpapier liegt. Außerdem ordnete ich Dinge hübsch rechtwinklig an, staubte ab, saugte Staub und jetzt sieht das Haus wieder sehr ordentlich aus. Womit ich nicht sagen will, dass es vorher nicht ordentlich war, aber wenn man 80 ist und sich alleine um einen Patienten kümmert, inklusive sehr, sehr, sehr viel Briefverkehr mit Krankenkassen, Pflegemittelversendern und KTW-Anbietern, haben Staubwischen und Dinge rechtwinklig anzuordnen logischerweise nicht unbedingt Prio 1. Völlig zu recht. Ich hatte beim zweiten Durchgang inzwischen eine gewisse Routine, ließ den Papierkram auch wie besprochen links liegen und konnte daher ein bisschen was erledigen, wofür das Mütterlein schlicht keine Zeit hat.
Bevor sie wiederkam, wurde die Bodenvase in der Diele mit einem neuen Strauß aus dem Garten bestückt, im Wohnzimmer stand ein kleiner Strauß, auch die winzige Vase, die vor dem Foto der verstorbenen Oma, Opa und Omi steht, bekam ein paar Blümchenchen (kein Schreibfehler, die Vase ist größenmäßig eher ein Schnapsglas). Zusätzlich bekam ihr Schlafzimmer eine Blume sowie eine Schachtel meiner Lieblingspralinen, gleich mit einem Tellerchen aus ihrem Lieblingsservice dazu, damit sie sich ein paar herausnehmen und den Rest in den Vorratskeller tragen konnte. Das hat sie alles sehr gefreut.
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Im Wohn- und Esszimmer hängen die üblichen Alte-Leute-Gardinen, schwer, tausend Rüschen und Röschen und Bänderchen. Die wollten wir gar nicht anfassen, aber: Am Montagmorgen ging der elektrische Rolladen nicht mehr hoch. Da Papa inzwischen dort in einer Zimmerhälfte schläft und die Pflegenden auch gerne Licht haben, wollten wir nicht warten, bis das Mütterlein wieder zuhause ist und uns sagen kann, ob wir die Tapete abreißen dürfen, um an den damit verkleideten Kasten zu kommen.
Stattdessen riefen wir den Nachbarn, der mit Papa 40 Jahre lang gemeinsam Dinge repariert hat und nun eine Art Faktotum fürs Mütterchen geworden ist. Er ist gelernter Elektriker, prüfte zunächst, ob die Steuerung eine Macke hatte; hatte sie anscheinend nicht, also mussten wir an den Kasten ran. Schwesterchens Mittagspause war schon rum, sie fuhr wieder ins Home Office, während ich den Part übernahm, die eine Hälfte der 2,50-Meter-langen Abdeckplatte festzuhalten, während der Nachbar die letzten Schrauben auf der anderen Seite löste. Er hatte die Tapete nur eingeschnitten, damit wir die Platte abnehmen könnten und fand per Magnet die Schrauben. Ein guter Mann.
Als wir beide auf Leitern standen und nun die Platte lösen wollen, fragte er in dem Moment, als sie uns entgegenkam: „Hast du eigentlich Angst vor Spinnen?“ Ich konnte nur noch „ÄH BITTE WAS?“ sagen, als ich die Platte in den Händen hatte – und dahinter, 40 Zentimeter vor meinem Gesicht, diverse Langbeine um die schwere Stange wuselten, an der eigentlich der Rolladen hängen sollte, dessen Riemen aber von ihr abgerutscht waren. Klar, der Kasten ist von außen zugänglich, aber darauf war ich nicht ganz so vorbereitet.
Wir legten die Platte ab, Nachbar holte den Industriestaubsauger von drüben, ich beobachtete misstrauisch, ob von den Spinnen ein paar in Richtung Wohnzimmer anstatt in Richtung Draußen wandern wollten, wollten sie aber nicht, da hatten sie Glück, auch wenn ich nur den kleinen fiepsigen Normalstaubsauger als Waffe hatte.
Der Nachbar befestigte die Riemen wieder – „das hatten wir bei euch in der Küche schon mal“ –, wir schraubten die Platte wieder an, und dann warf ich die mehrteilige Monstergardine in die Wäsche. Schwesterchen und ich brauchten ungefähr anderthalb Stunden, bis wir sie wieder in der richtigen Reihenfolge und mit den gleichen Schwüngen wie ihr Pendant auf der anderen Raumseite angebracht hatten und fluchten die ganze Zeit wie die Rohrspatzen.
Dummerweise sah diese Seite nun ein bisschen heller aus als die andere, aber wir brachten es einen Tag vor der Rückkehr des Mütterchens nicht mehr über uns, auch noch das andere Monster abzunehmen, zu waschen und vor allem wieder aufzuhängen. Schwester und Schwager mussten sich nämlich auf den Weg nach Sachsen machen, um das Mütterchen wieder abzuholen, und alleine hätte ich die Dinger nie wieder ans Fenster bekommen. Das ist jedenfalls die offizielle Sprachregelung. UND DIE TOTALE WAHRHEIT!
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Ja, das war alles ganz fürchterlich anstrengend, aber es hat sich gut angefühlt, mal was Sinnvolles zu machen. Also bis auf das Rüschenordnen der Gardine.
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Den Donnerstagabend verbrachte ich nach der Rückreise stumm und allein und das war dringend nötig.
Freitag zur Date Night gab es Bringdienst-Pizza und Rosé-Champagner und das war ebenfalls dringend nötig.
Ich habe eben einen kleinen Spaziergang über den Lieblingsfriedhof gemacht, weil es mir fehlt, morgens Grün zu sehen. Das kann ja heiter werden.