Tagebuch KW 28 – Im Norden
Am Sonntagvormittag saß ich mal wieder in einem ICE, dieses Mal kam ich ohne Umsteigen nach Hannover, wo ich sonst derzeit wegen Bauarbeiten oder irgendwas anderem in Nürnberg oder Kassel Koffer wuchten muss. Wir gondelten über Augsburg, was auch mal wieder schön war. Der Besitzer „meiner“ Dauerkarte beim FCA fragte letzte Woche, ob ich diese wieder übernehmen möchte, wobei mir auffiel, dass Fußball zurzeit sehr weit von mir weg ist. Ich kann es mir gerade nicht vorstellen, mit tausenden von Leuten im Stadion zu sitzen und noch weniger, eng gedrängt mit ihnen in der Tram zur Arena zu stehen. Es ist auch noch überhaupt nicht klar, wieviele Zuschauer:innen demnächst überhaupt ins Stadion dürfen, es gab noch keine Mail vom Verein dazu. Daher ahne ich, dass ich auch in dieser Saison eher Fernsehzuschauerin sein werde.
Ab Augsburg überlegte ich nebenbei, was ich abends im Norden wohl essen würde. Mein Schwager und meine Schwester hatten die letzte Woche plus zwei Tage übernommen, ab Sonntagabend war Papa dann wieder meine Aufgabe. Die beiden kochen gerne, daher hoffte ich auf andere Vorräte als die, die mein Mütterchen sonst vorhält. Gleichzeitig dachte ich über das italienische Restaurant am Ort nach, von dem man sich eine Pizza holen könnte, aber vielleicht ist der Laden ja geschlossen wegen des Finales? Gibt es überhaupt einen Bringdienst am Ort? Ich hatte es mir in der Woche in München sehr gut gehen lassen und trauerte meiner kleinen Asiaecke schon im Zug hinterher. Netterweise kam in Würzburg eine WhatsApp vom Schwesterchen: „Wir grillen übrigens heute.“ Aufatmen und Vorfreude meinerseits.
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Die beiden hatten im Haus Dinge erledigt, die man am besten machen kann, wenn das Mütterchen nicht da ist. Genau wie ich hatten sie einige der täglichen Abläufe anders organisiert, so dass sie für sie besser passten. Außerdem dübelte der Schwager gerade eine Fritzbox an OMG ES GIBT BALD INTERNET HIER DASS ICH DAS NOCH ERLEBEN DARF, auf mich wartete schon ein selbstgemachter Gurkensalat und ich wurde liebevoll auf die Kiste Augustiner im Keller hingewiesen. Vaddern war entspannt, erkannte mich und überstand auch Pflege und Ins-Bett-Gehen ohne Probleme. Es gab schon schlechtere Starts in die Woche.
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Am Montag entdeckte ich freudig Fischsauce und Koriander im Dorfsupermarkt und bastelte Crossover-Essen aus Sandwich und Gemüse mit Nuoc Cham für mich. Vaddern wird wochentags in der Tagespflege versorgt, der hat vermutlich irgendwas mit Kartoffeln bekommen. Er weiß es abends leider nicht mehr, wenn ich danach frage.
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Dienstag wurde Papa zweitgeimpft. Der Hausarzt machte seinem Namen alle Ehre und kam ins Haus. Papa erkannte ihn, vergaß aber nach fünf Minuten, dass er dagewesen war und wunderte sich über das Pflaster am Handgelenk, wo ihm Blut abgenommen wurde, wenn der Doc schon mal da war.
Daher blieb er an diesem und am Folgetag zuhause; nach der Erstimpfung war er sehr müde gewesen. So war es auch dieses Mal, er hatte auch keinen Hunger und döste quasi dauernd vor sich hin. Sobald er wach war, versuchte ich Flüssigkeit in ihn reinzukriegen, was nur so mittelerfolgreich war. „Ich mach dir noch ne Apfelschorle, ja?“ „Nimmst du noch einen Schluck Wasser, bitte?“ „Hier, dein Tee.“ „Trink mal aus, dann kann ich die Tasse wegräumen.“ „Du wolltest noch Wasser trinken, stimmt’s?“ Ich bin eine Schallplatte mit Sprung.
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Ich muss mir leider eingestehen, dass ich es wirklich genieße, morgens den Kaffee auf der Terrasse zu trinken und abends den Feierabendsekt. Meist (nicht immer) ohne Handy, einfach nur ins Grüne starren, durchatmen und sich entweder für den Tag wappnen oder ihn abhaken. Das hat jedesmal sehr gut getan und verwirrt mich jetzt sehr: Muss ich ernsthaft auf ein Häuschen im Grünen sparen und es in den Lebensplan einbauen? Vielleicht reicht auch erstmal eine VR-Brille für den städtischen Balkon.
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Gelesen: The Girls von Emma Cline. Es wird recht schnell klar, worum es geht – ein Mädchen gerät 1969 in eine sektenähnliche Gruppe, von denen schließlich einige vier Menschen umbringen, alles recht nah an der Manson-Story. Trotzdem liest es sich spannend, und weil die Hauptperson nicht zu den Mordenden gehört und wir ihren inneren Monologen daher etwas unvoreingenommener folgen können, fühlt man sich manchmal unangenehm als Komplizin. Die Geschichte ist auch eher das Trägermaterial für größere Themen: Liebe, Selbstliebe, irgendetwas, was man sich als Liebe einbildet, aber etwas ganz anderes sein kann, Sehnsucht, Geborgenheit, „we all want to be seen“. Manche Sätze waren mir zu sehr auf Effekt geschrieben, aber ich habe das Buch sehr gern gelesen. Vor allem die zweite Ebene, die der erwachsenen Hauptperson, die rückblickt, hat für mich das Buch sehr rund gemacht.
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Aus Gründen musste ich am Donnerstag die 112 anrufen, nichts Schlimmes, nur etwas Unangenehmes, nur, haha, aber das war halt das Prozedere, zu dem mir die Pflegenden rieten. Ich stellte fest, dass eine Notrufzentrale andere Dinge fragt als die, die ich bei „9-1-1“ so gerne höre und sehe. Ich wusste auf die Schnelle ernsthaft nicht, wie alt Papa ist, ich habe mich um ein Jahr vertan. Außerdem stockte ich bei der Frage „Erdgeschoss oder weiter oben?“ Eigentlich Erdgeschoss, aber zur Haustür geht eine größere Treppe hoch. Was sagt man denn da?
Eigentlich wollte ich schreiben, dass es das erste Mal, dass ich diese Nummer wählen musste, aber dann fiel mir ein, dass ich ja selber auch schon mal in einem Krankenwagen gelegen habe, den ich mir selbst ordern konnte. Seitdem schicke ich immer ein kurzes inneres „Get well soon“ oder „Gute Besserung“ ins Universum, wenn ich irgendwo eine Sirene höre.
Papa war nach zwei Stunden wieder zuhause, alles gut. Tolle Sanis, trotzdem ungern wieder.
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Meine Mutter bügelt alles, vermutlich sogar Socken. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, wenigstens die T-Shirts nicht zu bügeln, denn: Deswegen sind es ja T-Shirts, die muss man nicht bügeln, die ziehen sich glatt, sobald man sie am Körper hat (meine jedenfalls). Einige Male musste ich den Pflegenden aber zur Hand gehen, weil Papa sich an schlechten Tagen wehrt oder mindestens unkooperativ ist. Dabei lernte ich, dass Shirts immer so glatt wie möglich gezogen werden müssen, denn Papa versteht manchmal den Zusammenhang zwischen Kopf und Körper nicht mehr, und obwohl er es physisch könnte, sich mehr oder anders zu bewegen, weiß er das nicht und ist daher unbeweglich oder hält sich nicht ganz aufrecht im Rollstuhl oder ähnliches. Daher müssen die Shirts glatt sein, auf denen er liegt oder die er im Rücken spürt, damit sich dort keine Falten bilden, die nach stundenlanger Fast-Bewegungslosigkeit in die Haut drücken.
Ich bügele jetzt also Shirts.
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Nach einem eher doofen Tag erstmals vor der Pflegekraft geheult. Haben wir das auch hinter uns.
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Das Mütterchen mag keine Hilfsmittel wie schnabeltassenähnliche Becher, aber ich orderte trotzdem mal zwei über das große, böse Internetkaufhaus, weil ich hier halt nicht mal eben solche Dinge beim Händler um die Ecke kriege. Wegen seiner Bewegungslosigkeit hielt Papa den Kopf mehrere Tage hintereinander immer schiefer, je länger der Tag dauerte, und konnte so nicht mehr vernünftig trinken, weil er nicht verstand, dass er dafür den Kopf gerade halten musste. Also stand ich mit dem Handtuch neben ihm und drückte es an seine Wange, damit sein Shirt nicht nass wurde, das ich ihm alleine nicht wechseln kann, was ich für keinen vernünftigen Zustand hielt.
Jetzt hat er einen blauen Becher mit Deckel und Schnabelaufsatz und ich habe gestern über zwei Liter Flüssigkeit in ihn reinbekommen, ohne Kleckern. Geht doch.
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Ein schönes Gefühl: wenn man morgens in Sandalen über den Rasen geht, um Wasser im Vogelbad nachzufüllen, und dabei vom Tau nasse Füße bekommt.
Ein beschissenes Gefühl: wenn der Vater sich nicht wohl fühlt, dir aber nicht sagen kann, was wo weh tut und man nichts tun kann außer ihn zu streicheln, zu heulen und hundertmal „Ist alles gut, Papa“ zu sagen, obwohl es Bullshit ist.
Ein schönes und ein beschissenes Gefühl: zu merken, dass man mehr Geduld hat als man von sich dachte, sie aber doch irgendwann zu Ende ist.
Ich will viel schreiben, aber ich will es nicht im Internet lesen.