Balut im Kontext
Vor einigen Wochen verlinkte ich einen Artikel aus dem New Yorker, der sich mit dem Museum of Disgusting Food in Malmö befasste. Die Autorin wies darauf hin, dass für den einen etwas eine Delikatesse ist und für die andere schlimmes Zeug – weil wir alle andere Geschmäcker haben und vor allen Dingen in unterschiedlichen Kulturräumen aufwachsen. Für sie als Chinesin war vieles der westlichen Küche unverständlich, an das sie sich erst heranessen musste. Daher wäre die Bezeichung „disgusting food“ mindestens unsensibel gegenüber Esskulturen der nicht-westlichen Welt, wobei das Museum durchaus auch Dinge wie Sauerkraut und Lakritz präsentiert.
Sie erwähnt, dass dem Museumsdirektor nur von einer Spezialität schlecht geworden sei: balut. „Ahrens found plenty of the foods unpleasant, but he got sick only after tasting balut, a Filipino egg-fetus snack that is eaten straight from the shell—feathers, beak, blood, and all.“
Klingt erstmal fürchterlich, würde ich auch nicht dringend probieren wollen. Aber dann las ich in einem meiner neuen Bücher über philippinische Esskultur einen etwas längeren Absatz über diese Eier – und verstand auf einmal, warum sie gut und wichtig und auch durchaus ein angenehmes Esserlebnis sein können. Daher die Überschrift: Wie immer ist der Kontext wichtig. Und dass die philippinische Variante meist nicht „beak, feathers, blood, and all“ enthält.
„[…] Balut is sold all the time and everywhere – on streets, at stalls, outside movie houses, outside nightclubs and discos, in markets; by vendors walking, sitting, or squatting; at midnight and early dawn, at breakfast, lunch, merienda, and dinner time. My first introduction to the sounds of Manila as a student was being wakened by the early morning vendor calling “Baluu-u-u-ut” along Mayhaligue Street in Sta. Cruz.
Balut is fertilized duck egg, boiled, and eaten by cracking the wide end, making a hole, sprinkling a little salt, sipping the broth, and then cracking the whole open to savor the red yolk and the tiny chick inside. The perfect balut, to the Filipino, is 17 days old, at which stage the chick is still wrapped in white (balut sa puti), and does not show beak or feathers (Vietnamese and Chinese like their balut older, the chick larger). A Pateros balut-maker explains that the best specimens are sold to his special customers, who become connoisseurs and will have nothing older or younger than perfection. (In the U.S. it is usually sold at 16 days, so as to be less threatening to those unused to this cultural experience.) Older specimen (the balut continues to grow until boiled) are sold to ambulant nighttime vendors, whose customers are not so particular or steady, and the 19-day holdovers (chicks almost ready to hatch) are sold only by bus terminal vendors, who will never see their customers again, will not hear recriminations, or form friendhips with them.
Balut is popularly believed to be an aphrodisiac, or at least to have invigorating powers, and so is sold even in the late evening and early mornings. It is always carried around in padded baskets, so that the eggs are kept warm, and the seller supplies rock salt as well in little twists of paper, and chili-flavored vinegar, if desired.
Some years back, one vendor in Cubao startet to sell fried balut. These were cracked eggs, which couldn’t be sold as balut, since the broth had seeped out. She peeled them, rolled them in flour, fried them in her cart and seved them in bowls with a little salt, vinegar, and chili. Now the fried balut or penoy (the unfertilized egg) are the current fad: rolled in orange-colored batter, fried, and sold all over Cubao; eaten from the little bowls, while standing up and finetuning the flavor to one’s taste by adding condiments.
Somewhat related to balut is the day-old chick. Poultries only keep female chicks to grow into fryers; male chicks used to be dumped into the sea – until someone fried them whole, into what is sometimes called “super-chicks” or “Day-O“. These too are sold in streets and carts – and at beer places, as pulutan.
Balut is, as poet Tom Agulto says, deeply embedded in Philippine food culture. It is practical, inexpensive, nutritious, and available in all seasons. Prices change only slightly accoding to place and time. “One can call it“, he believes, “the national street food of the Philippines.”“
Doreen G. Fernandez: Tikim. Essays on Philippine Food and Culture, Erstausgabe Mandaluyong City 1994, hier die Neuauflage von 2020, S. 12/13. Ich schrieb schon kurz über das Buch.
Das Kapitel zu Balut steht im Buch im Überkapitel „Food and Flavors“. Darin wird auch etwas zur Restaurantkultur – oder der damals, Anfang der 1990er Jahre noch fehlenden gesagt. Ich ahne, dass sich das inzwischen geändert hat, aber zur Einordnung fand ich es interessant: Die Restaurantkultur begann gerade erst, sich zu etablieren, und die ökonomischen Bedingungen ließen für viele Menschen neben Street Food gar keine andere Möglichkeit zu, zu fertigen Mahlzeiten zu kommen: „Street Food is for workers or passersby who cannot afford restaurants, or to go home to eat. It is for the traveller, the wanderer, the worker who keeps odd hours or has no food waiting at home; for schoolchildren who only have 15-minute-class breaks; for the husband or wife who does not want to go home empty-handed, or has no time to create home-cooked meals.“ (S. 13)
Man kann darüber diskutieren, ob man für diese Zeitpunkte unbedingt angebrütete Küken frittieren muss, aber mir kam die Speise nach der Lektüre dieser Zeilen nicht mehr ganz so seltsam vor.
Das Museum hat inzwischen eine Dependance in Berlin eröffnet. Dort werden die Exponate immerhin in der Berichterstattung etwas eingeordnet, wie ich in der FAZ erfreut feststellen konnte:
„Man gerät bei Speis und Trank schnell in kulturchauvinistische Abgründe. Als im Frühjahr 2020 SARS-CoV-2 nach Europa kam, hörte man in dem angewiderten Ton, in dem über den chinesischen Wildtiermarkt gesprochen wurde, von dem das Virus womöglich stammt, neben berechtigter Kritik auch das Klischee von der unzivilisierten chinesischen Esskultur. [Museumsdirektor] Völker erklärt das mit der emotionalen Bindung von Essen an die soziale Zugehörigkeit: „Der Geschmack ist das Erste, was uns ein Heimatgefühl gibt, sozusagen mit der Muttermilch.“ Und wo Heimat eine Rolle spielt, lauert bekanntlich die Herabwürdigung anderer. Die Philosophin Martha Nussbaum beschreibt den Ekel etwa als historisch-politisches Werkzeug zur Unterdrückung sozialer Gruppen wie Juden, Frauen und Homosexueller.
Zu Völkers Arbeit als Museumsdirektor gehört ausdrücklich die Vermeidung von Völkerkunde qua Kulinarik. Anders als das Pendant in Malmö habe er auf jegliche „Ethno-Anmutung“ verzichtet. In der schwedischen Ausgabe laufe der Besucher über einen nachempfundenen chinesischen Markt, „und bei den Fröschen“, so Völker, stehe eine Puppe „mit Anden-Mütze und Panflöte im Anschlag. So was wollten wir unbedingt raus lassen. Am Ende muss das Produkt zählen, ohne dass man die Assoziation ermöglicht: Ach, guck mal, da in den Anden. Oder: Hier bei den Chinesen, da gibt es das, und das essen die jeden Tag. Weil das so auch gar nicht ist.““
Und der Tagesspiegel erwähnt, dass auch in Westeuropa durchaus seltsames Zeug verzehrt wird:
„Ein mit blauen Schimmeladern deftig durchzogener Roquefort oder eine glitschige rohe Auster mögen den frankophilen Gourmet erfreuen, andere wenden sich bei dem Anblick womöglich mit Schaudern ab. Was ekelerregend ist, liegt oft im Auge und in der Nase des Betrachters, und der ist in seiner Kultur verfangen. […]
Man muss gar nicht unbedingt weit reisen, um gewöhnungsbedürftige Speisen zu erleben. Gleich neben dem sardischen Pecorino-Käse-Laib, in dem fröhlich die Maden herumwimmeln, gibt es den Milbenkäse aus Sachsen-Anhalt zu sehen, der inzwischen ebenfalls als hochpreisiger Leckerbissen gehandelt wird.“