Tagebuch KW 27 – Dazwischenwoche

Wenn man sein eigenes Diss-Dokument seit April nicht mehr in großen Brocken oder gar ganz durchgelesen hat, liest sich das an manchen Stellen wirklich nochmal überraschend. Und gut. Ich bin zufrieden mit dem Ding. Ich weiß leider, was ich alles rausgestrichen habe, sonst wäre das Buch 800 Seiten dick geworden und das braucht kein Mensch, aber so ein bisschen trauere ich doch ein paar Darlings hinterher, die aus Platzgründen sterben mussten.

Ausgelesen: Wolfgang Rupperts Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000. War als Hintergrund für die Kunststadt München – so nannte sich das Örtchen hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts – und damit auch für meinen Künstler ziemlich ergiebig. Ich fand die Außensicht auf die Stadt spannend, also die Wahrnehmung anderer, so zum Beispiel die von Lovis Corinth, der die Münchner Akademie als die „in Deutschland am berühmtesten“ bezeichnete und 1880 aus Königsberg wechselte. Dass die Akademie nach dem Ersten Weltkrieg beharrlich Dinge wie den Blauen Reiter ignorierte und bis auf einen Lehrer arg konservativ blieb, war dann wieder für mich wichtig, weil Protzen von 1920 bis 1925 hier studierte. Trotzdem stelle ich die These auf, dass die Außenwirkung der Stadt möglicherweise Einfluss auf seine Entscheidung gehabt haben könnte, aus Paris, wo er seit 1908 gelebt hatte, und der folgenden Zivilgefangenschaft auf Korsika zwischen 1914 und 1918 nicht nach Leipzig zu seiner Familie zurückzukehren, sondern sich eine neue Heimat zu suchen.

Münchens Ruf und der im Vergleich zu anderen Städten hohe Künstleranteil hatte auch Einfluss auf die Wohnkultur: Gerade in den bürgerlichen Mietshäusern in Schwabing wurden von vornherein große Atelierräume mit üppiger Fensterfront nach Norden eingeplant. Und so ziemlich jede dritte Kneipe in Schwabing bzw. der Maxvorstadt hat auf seiner Karte launige Anekdoten von Künstlerfesten oder Stammpublikum. („Thomas Mann hat hier seine Spiegeleier gegessen.“ Erfundenes Zitat, ich war zu lange nicht mehr irgendwo ein Bier trinken.)

Nebenbei lernte ich auch viel über Künstlervillen (hier vor Ort Villa Stuck oder das Lenbachhaus), Atelierausstattung sowie den Künstlerhabitus. Der Malerkittel, den ich zum Beispiel von einem Porträt Leo von Weldens kenne (S. 26), oder Handwerkszeug wie der Malstock auf diesem bekannten Gemälde von Georg Friedrich Kersting, das Caspar David Friedrich zeigt, waren eine Zeitlang gerade keine Abbildung wert. Ende des 19. Jahrhunderts malten sich Maler „in den gängigen bürgerlichen Kleidercodes und symbolisierten somit primär eine sozialgeschichtliche Verortung zwischen Bürgertum und kleinbürgerlichen Schichten.“ Aber: „[A]ndere Zeichen wurden zu Chiffren für den Künstlerhabitus. Durch Richard Wagner gewann das Tragen des Samtbaretts und einer Samtjacke den Codewert des Künstlers in einer die Sparten überwölbenden populären Bedeutung. Aus der Zeit um 1890 wird von einer Mode berichtet, nach der sich ‚der heutige Maler‘ mit einer ‚manirierten‘ Samtjacke kleidet. Als weitere Distinktionszeichen dienten eine besondere ‚Krawatte‘ oder die lange ‚Künstlermähne‘.“ (S. 313) In der Fußnote steht noch mehr zur Mähne: „Lange Haare waren im 19. Jahrhundert als ein Zeichen des Freiheitswillens aufgeladen. So gehörten sie bereits neben Freischarenmantel und schwarzroter Mütze um 1819 zur sogenannten Nationaltracht. In der Revolutionsbewegung um 1848/49 galten sie ebenfalls als Muster der kollektiven Verständigung über Zuordnungen.“

Ebenfalls durchgelesen: Kristine Bilkaus Die Glücklichen. Och jo. Konnte man machen, ich werde mich aber in vier Wochen schon nicht mehr an die Story eines gutbürgerlichen Paars erinnern, die beide arbeitslos werden und nun der vielleicht-bald-schon-nicht-mehr städtischen Altbauwohnung hinterhertrauern. Außerdem gemerkt: Das Wort „Reiswaffeln“ ist für mich Chiffre für Prenzlau-Eppendorf-Bogenhausen, wenn es um die Fütterung des Nachwuchses geht. Isst die irgendjemand wirklich gern? Sind die das Äquivalent zum Zwieback, an dem meine Generation rumlutschte?

Ebenfalls durchgelesen: Siegfried Lenz’ Der Überläufer. Hier fand ich die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte spannender als das Buch, in dem es genau eine weibliche Figur gibt, die mal was Längeres sagen darf, nämlich die der Partisanin, die mit dem deutschen Soldaten schläft, der ihren Bruder erschossen hat und ja, genauso habe ich auch geguckt. Alter! Dass sie nebenbei durch schlanke Beine, eichhörnchenbraunes Haar und dem „herausfordernden Profil ihrer Brüste“ charakterisiert wird, hat mir das Buch noch madiger gemacht. Ab der Hälfte habe ich es quergelesen, weil mich Männer im Krieg und danach Männer in der SBZ nicht ganz so interessierten wie ich dachte, auch wenn ich Lenz’ Stil sehr mag. Aber für die Entstehungsgeschichte, die ich im Nachwort kennenlernte, hat es sich dann doch gelohnt (mehr im obigen FAZ-Link): Das Buch sollte in den 1950er-Jahren als Fortsetzungsroman erscheinen – aber dann doch nicht, weil das Thema Überläufertum nicht ganz so en vogue war in einem Land, das gerade aggressiv damit beschäftigt war zu verdrängen, was zwischen 1933 und 1945 so passierte bzw. sich davon zu überreden, dass die Wehrmacht doch eigentlich voller netter Jungs gewesen war. Also erschien das Buch erst jetzt vor wenigen Jahren, ist aber eigentlich Lenz’ zweiter Roman.

Sehr viele Dinge mit Fischsauce gegessen, viel Chili in alles geworfen. Als die Textarbeit erledigt war, habe ich mich weiter durch das Marvel Cinematic Universe gearbeitet, um anständig auf Loki vorbereitet zu sein.

Endlich mal beim Brantner Croissants erwischt. Die kann man nämlich nicht vorbestellen, sondern muss hoffen, rechtzeitig im Laden zu sein, bevor sie weggekauft sind. Wie erwartet, sind sie so großartig wie alles andere von dort. Das wird mein Ruin werden.

Heute geht es wieder in den Norden. Ich bin nicht mehr ganz so angespannt wie beim letzten Mal, weil ich jetzt das Ende sehen kann; vor der letzten Fahrt wusste ich, ich habe nur eine gute Woche Pause dazwischen und dann geht alles wieder von vorne los, aber wenn ich jetzt wiederkomme, darf ich erstmal länger zuhause bleiben. Dass man sich mal so auf seinen Schreibtisch freuen kann, um dann in Ruhe die letzten Handgriffe für die Diss-Veröffentlichung zu erledigen.

In den letzten Tagen haben Schwester und Schwager übernommen, die im selben Dorf wie meine Eltern wohnen, weswegen sie etwas mehr ins Haus schleppen konnten als ich, die immer nur ihre Lieblingsmesser mitnimmt, um nicht wahnsinnig zu werden. Sie trugen unter anderem ihr gesamtes Bettzeug rüber, und, und das fand ich sehr schön, auch Klopapier. Mein Mütterchen kauft seit den schlimmen 80er Jahren, als es die ersten Bioläden bei uns auf dem Dorf gab und damit fürchterliches Brot und „Schokolade“ aus Johannisbrotbaummehl und stinkende Kernseife, auch recyceltes Klopapier. Innerlich denke ich immer, wenn ich es benutze, „Sind wir hier in der Zone?“ und schäme mich dann brav dafür, aber dieses Mal habe ich mir ausbedungen: weiches, weißes Klopapier von den fiesen Supermärkten oder no deal. Also bekam ich mein geliebtes dreilagiges Edekapapier, weswegen ich sehr grinsen musste, als meine Schwester ihr vierlagiges von Rossmann anschleppte.

Ich kaufte auch Seife im Spender, den man mit dem Ellenbogen bedienen kann, wenn man von draußen kommt, sowie Spülschwämme, weil ich nicht gerne mit Spülbürsten arbeite. Mal sehen, was Schwester und Schwager noch alles geändert haben; die freuten sich jedenfalls sehr über die Schwämme.

Dann wollen wir mal wieder. Mein Koffer besteht zur Hälfte aus Büchern, die ich erst lesen wollte, wenn der Disstext fertig ist. Zum ersten Mal seit Jahren schleppe ich gerade kein Buch mit mir rum, was direkt mit dem NS zu tun hat. Endlich Muße und den Kopf für den Wagnerschinken, auf den ich mich seit Monaten freue. Nein, das hat nichts mit dem NS zu tun! … Okay, ein bisschen.