KW 31 – Keine passende Überschrift

Das Konstrukt, dass eine 81-Jährige für die Pflege eines 83-Jährigen verantwortlich ist, war seit Monaten fragil, vor allem, wenn dieser 83-Jährige geistig und körperlich immer mehr abbaut. Es hatten auch ausnahmslos alle Menschen, die davon Ahnung haben, Ärztinnen, Pfleger etc. in der Reha, in diversen Praxen und schon im Krankenhaus 2019 direkt nach dem Schlaganfall von Papa von Anfang an gesagt, dass Vaddern eigentlich zu krank ist, um zuhause adäquat versorgt zu werden. Bei solchen Ansagen wird das Mütterchen aber leider sehr schnell sehr bockig und bekommt so ein „Das wollen wir doch mal sehen“-Glimmen in den Augen.

In den letzten zweieinhalb Jahren retteten wir uns quasi von Monat zu Monat. Eine örtliche Pflegeeinrichtung versorgt Papa dreimal am Tag ganz hervorragend, und den Rest des Tages ist das Mütterchen da. Einmal im Monat komme ich für eine Woche, jedenfalls theoretisch, damit sie mal ausschlafen oder zu Ärzten kann und nicht kochen muss. Theoretisch, weil: Corona, Inzidenzen, Zugfahren uswusf., Sie kennen das, Sie waren dabei. Meine Schwester unterstützt beim Papierkram, der Schwager hilft im Garten, die Nachbarn sind da, Dorf halt, das ist schon super. Aber im Prinzip ist meine Mutter seit zweieinhalb Jahren im Dauerdienst. An miesen Tagen weiß sie das auch, dann legt sie heulend am Telefon auf, wenn man vorsichtige Kritik an irgendwas anbringt und sagt Dinge wie: „Du weißt ja nicht, wie das ist, wenn man zweieinhalb Jahre eingesperrt ist.“ Bis jetzt ist mir noch nie rausgerutscht: „Das war deine Idee, kein Mensch auf diesem Planeten verlangt das von dir, und wir schon gar nicht“, aber ich konnte mich bis jetzt immer beherrschen.

Daher war der sofortige Modus, als sie Dienstag vor einer Woche anrief und sagte, sie müsse ins Krankenhaus, auch: Ich buche einen Zug, packe hektisch meinen gerade ausgepackten Koffer wieder ein und übernehme. Dieses Mal konnte ich mich innerlich nicht ganz so stählen wie sonst, weswegen alles noch unvermittelter über mich hereinbrach, aber immerhin: Geheult habe ich erst am Telefon, als meine Mutter aus dem Krankenhaus anrief mit der üblichen Grabesstimme. Und dieses Mal rutschte dann auch alles raus, was ich mir seit zweieinhalb Jahren verkneife bzw. was seit einigen Monaten, wo Papa und nun auch Mama deutlich abbauen, ganz vorne auf der Zunge liegt.

Auch die Pflegenden sind am Ende ihrer Kräfte angelangt, wirklich jede und jeder legt Mama nahe, Papa nun doch in ein Pflegeheim zu geben, wo er besser versorgt werden kann, Schwester, Schwager und ich sammeln seit Monaten Argumente, die man ihr liebevoll und vorsichtig vortragen kann, vielleicht bei einem gemütlichen Beisammensein im Wohnzimmer, mit Kuchen, in Ruhe, aber wir drückten uns genauso lange um eine Aussprache, weil wir nicht das „Das wollen wir doch mal sehen“-Glimmen herausfordern wollten. Nun war der Punkt aber gekommen, an dem das wackelige „Das geht schon irgendwie“ sehr wankte, und so spulte ich heulend alles ab, was im Hinterkopf war, verschwitzt und überfordert im alten Kinderzimmer, und das Mütterchen mit Medikamenten vollgepumpt im Krankenhaus bekam es ungefiltert ab. Wir weinten beide, und irgendwann kam ein gepiepstes „Ich glaube, ihr habt recht.“

In der letzten Woche suchten Schwester, Schwager und ich per Telefon, Internet und Beziehungen einen Platz fürs Väterchen, und weil das Universum irgendwas wieder gutmachen will, fanden wir zunächst einen Kurzzeitpflegeplatz und haben Aussicht auf einen Dauerpflegeplatz. Schwester und ich hatten uns mehrere Heime angeschaut, hatten telefoniert und gemailt und noch mehr telefoniert, aber ich konnte mich Mittwochmittag in den Zug setzen mit dem Gefühl, das alles organisiert ist. Die Entscheidung kam überstürzter und chaotischer und hektischer als wir uns das vorgestellt hatten, aber sie ist endlich da. Komischerweise fühlt genau das sich noch scheiße an: Die Option, die Idee, Papa ganztägig irgendwann in professionelle Hände zu geben, war in Ordnung, aber jetzt, wo diese Option eine Tatsache ist, fragt man sich doch den ganzen Tag, ob man es richtig gemacht hat. Zum Schluss waren Schwester und ich uns erneut unsicher und fragten das Mütterchen, das ja ewig dagegen gewesen war, aber selbst sie hatte inzwischen verstanden, dass gerade alles über aller Kräfte geht, auch die von Papa.

Ich stand Mittwoch also wie immer um 5.45 Uhr auf, weckte Papa, gab ihm etwas zu trinken, deckte ihn nochmal zu, während ich lüftete, machte mich für den Tag fertig, die Pflege kam, kümmerte sich um seine körperlichen Belange und hob ihn vom Bett in seinen Pflegerollstuhl, in dem er wochentags zur Tagespflege abgeholt wird. Während wir auf den Fahrer warten, gibt’s immer einen Liter Tee in Etappen, die Kanne steht in der Küche, der Rollstuhl im Wohnzimmer, damit Papa in den Garten gucken kann, und dieses Mal heulte ich bei jedem Gang kurz in der Küche, riss mich wieder zusammen, ging zu ihm, gab ihm den Tee bzw. half bei der Tätigkeit des Trinkens, ging wieder heulen und Tee nachfüllen und so weiter.

Ich schob ihn um kurz vor 8 in die Diele, von wo er nach draußen gucken kann, um das Fahrzeug zu sehen, und als es kam, nahm ich ihn in den Arm und sagte: „Ich hab dich lieb, Papa.“ Und er sagte: „Ich hab dich auch lieb, Anke.“ Selbst wenn er mich demnächst nicht mehr erkennen wird – das kann ich noch mitnehmen.

Auf der Zugfahrt war ich körperlich und emotional platt, ich hörte fünf Stunden Popmusik aus den 80ern und dachte an möglichst gar nichts.

Donnerstag mittag brachten ihn dann Schwester und Schwager ins Heim. Freitag früh telefonierte Schwesterchen mit dem Heim und ihm, er hatte schon gefrühstückt und klang gut. Das wurde mir sofort weiterberichtet und ich war deutlich beruhigter.

Auch das Mütterchen ist seit Donnerstag nachmittag wieder zuhause, hier hilft Schwesterchen noch bei größeren Dingen, weil sie sich noch nicht so anstrengen soll. Ich ahne, dass ich nächste Woche noch einmal mindestens für ein längeres Wochenende hochfahren werde, damit nicht alles an meiner Schwester hängenbleibt, aber sie meinte, das geht schon. Auch Mama rief gestern an und meinte, es sei nicht so schlimm gewesen wie sie es sich vorgestellt hätte, in ein leeres Haus ohne Papa zu kommen, und sie klang deutlich besser als erwartet.

Mir fiel in den letzten Wochen auf, wie hilfreich es ist, das nicht alles alleine durchstehen zu müssen. Auch wenn Schwester und Schwager im Prinzip den selben Job hatten wie ich, konnten sie doch kurz zwischendurch nach Hause, in ihren Garten, in ihre eigene Umgebung. Ich saß im alten Kinderzimmer, das inzwischen einfach nicht mehr mein Zimmer ist, sondern nur noch irgendeins im alten Elternhaus und hatte nur die DMs von F., der sich nach Kräften bemühte, für mich da zu sein. Die beiden konnten sich aber abwechseln, damit einer kurz heulen oder die Welt anschreien konnte, während ich allein war.

Ich weiß, dass die Beziehung von Ehefrau und Ehemann eine andere ist als die zwischen Eltern und Kindern; ich ahne, dass es daher Mama etwas leichter gefallen ist, sich so komplett einem anderen Leben unterzuordnen, aber ich bin jetzt noch erstaunter als früher, wie lange sie es durchgehalten hat. Ich kann auch nicht wirklich erklären, warum es so unfassbar anstrengt, sich um seinen dementen Vater zu kümmern, selbst wenn er im Bett liegt und man nicht, wie viele andere Kinder und Partner, aufpassen muss, dass er nicht den Herd anlässt oder auf Hauptstraßen rennt.

Ich habe noch keine endgültige Meinung zu irgendwas, ich weiß immer noch nicht, ob es das Richtige ist, was wir tun oder taten oder noch tun werden. Die letzten zehn, vierzehn Tage waren wildes Reagieren, was deutlich anstrengender für mich ist als eine geplante Aktion, und daher fühle ich mich immer noch wie mitten drin. Ich kann meinen Kopf noch nicht ausmachen, ich denke abends immer noch darüber nach, ob ich alle Klamotten rausgelegt habe und der Personenlifter aufgeladen ist, und ich wache immer noch morgens um 5 auf. Mal sehen, wann das aufhört.