Tagebuch Sonntag, 24. Oktober 2021 – Eis, Sep Ruf und Hermann Levi

F. und ich machten uns am späten Nachmittag noch einmal zur Lieblingseisdiele Ballabeni auf, bevor diese irgendwann im November ihre Türen für dieses Jahr schließt; für mich gab es griechischen Jogurt mit Orange sowie Zabaione, wie immer auf der Bank an den Pinakotheken genossen.

Das Ballabeni befindet sich im Sep-Ruf-Haus gegenüber vom Museum Brandhorst. Das Haus wurde Anfang der 1950er-Jahre erbaut und feiert gerade seinen 70. Geburtstag. Die Sep-Ruf-Gesellschaft hat deswegen einen kleinen Schaukasten direkt an der Eisdiele bestückt, um darauf hinzuweisen. Dort ist die hübsch-verklärende Formulierung zu lesen, dass Ruf zu den bedeutendsten Architekten nach 1945 gehört, was natürlich elegant ignoriert, dass der Herr auch schon vor 1945 entworfen hat. In meinen Recherchen zur Diss habe ich seinen Namen unter anderem bei der Mustersiedlung Ramersdorf gefunden.

Ich liebe das Ruf-Haus an der Theresienstraße allerdings sehr und las den Schaukasten interessiert durch. Dort ist unter anderem eine Kopie eines Artikels aus der „Revue“ zu lesen, in dem ein junges Ehepaar beschrieben wird, dass sich eine der neuen Wohnungen kauft. Der Artikel nennt es eine „sogenannte Eigentumswohnung“, was wohl heißt, dass das Konzept des Wohnungserwerbs noch recht neu war. Hatte ich auch noch nie drüber nachgedacht. Beim Eisessen Dinge lernen ist mein Jam.

Danach schlenderten wir zum Künstlerhaus, in dem wir uns eine Soirée zu Hermann Levi anschauen wollten, die im Rahmen des Projekts „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ stattfand. Im Künstlerhaus überlegte ich auf der Treppe zum Festsaal natürlich, wie oft wohl Herr Protzen hier hochgestiegen war, aber laut der Wikipedia wurde das Haus 1944 großflächig zerstört.

Der Artikel macht mich irre, wie so viele Artikel über die NS-Zeit. Solche Sätze, Alter: „Das Münchner Künstlerhaus blieb bis auf weiteres verwaist. Die Zeit der unbeschwerten Feste war mit Aufkommen des Nationalsozialismus beendet. Ein Ball im Februar 1933, initiiert von dem Maler Anton Leidl, war die letzte selbständige Veranstaltung des Künstlerhaus-Vereins.“

Ich zitiere aus meiner Diss:

„Walter von Ruckteschell wurde im November 1933 zum Präsidenten der Münchner Künstlergenossenschaft, nachdem Eugen Hönig diesen Posten verlassen und den des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste übernommen hatte. Das sorgte für eine enge Zusammenarbeit der beiden Organisationen; im Juni 1934 tagte die Reichskammer im Münchner Künstlerhaus, das von Mitgliedern der MKG festlich ausgeschmückt wurde. […]

Am 24. Juli 1938 ging die MKG mit anderen Münchner Künstlervereinigungen in der neu gegründeten Kameradschaft der Künstler auf. Gauleiter Adolf Wagner machte den Reichsminister der Finanzen per Brief darauf aufmerksam:

„Das Vermögen der Künstlervereinigungen, besonders das des Münchner Künstlerhausvereins e. V. und der Münchner Künstlergenossenschaft soll auf die Kameradschaft der Künstler München e. V. übertragen werden. Die Kameradschaft der Künstler soll alle künstlerischen schöpferischen Menschen auf Grund des Leistungsgrundsatzes zu einer kameradschaftlichen Gemeinschaft vereinigen, deren bestimmende Grundlage die nationalsozialistische Weltanschauung ist. Sie dient demnach ausschließlich gemeinnützigen Zwecken.“[1]

Dieser Zusammenschluss folgte angeblich „einem Wunsche nach Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte“.[2] Paul Rosner „übergab Vermögen und Kunstbesitz dem Sektor Bildende Kunst in der Kameradschaft der Künstler, der auch die Geschäftsräume der MKG und die ständige Ausstellung im Maximilianeum“ übernahm.[3] Rosner wurde Erster Vorsitzender bzw. Leiter des Sektors Bildende Kunst der neuen Kameradschaft.

Hitler förderte die Kameradschaft der Künstler indirekt, indem er ab Juli 1938 monatlich 10.000 RM auf deren Konto überweisen ließ. Offiziell war diese Summe für die Förderung des Künstlernachwuchses in München bzw. den „Wirtschaftsbetrieb des Künstlerhauses“ vorgesehen.[4] Die Kameradschaft verfügte so über außerordentlich große finanzielle Mittel, die ihr regelmäßig zukamen. Eine größere Hypothek wurde ihr 1942 erlassen mit der Begründung, „dass es sich beim Künstlerhaus um ein Unternehmen handelt, das sich des besonderen Interesses des Führers erfreut.“[5]“

[1] BayHStA, MK 51588: Adolf Wagner an den Reichsminister für Finanzen, 27.7.1938.
[2] StdA München, ZA-9129: Möhl, Friedrich: „Unsere Künstler als Kameraden“, in: Neues Münchener Tagblatt, 26.1.1939.
[3] BayHStA, HdDK 132: Einladung zur konstituierenden Hauptversammlung des Sektors „Bildende Kunst“ in der Kameradschaft der Künstler München am 25.1.1939. Laut Tagesordnung wurde zu diesem Zeitpunkt das Vermögen der MKG an die Kameradschaft übergeben. Vgl. auch StdA München, ZA-9129: N. N.: „Münchens Künstler erhalten ein eigenes Ausstellungsgebäude“, in: Völkischer Beobachter, 26.1.1939.
[4] BArch R/43 II/1646b: Hans Heinrich Lammers an den bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert, 14.8.1938. Siebert hatte im Juli 1938 um eine „Spende des Führers“ gebeten, und zeitgleich das Haushaltsbudget für den Künstlerhausverein von jährlich 5000 RM auf 50.000 RM erhöht, vgl. BArch R/43 II/1646b: Ludwig Siebert an Gauleiter Adolf Wagner, 20.7.1938, sowie BArch R/43 II/1646b: Ludwig Siebert an Adolf Wagner, 29.6.1938. Eine Auszahlungsordnung der Reichskanzlei weist die Auszahlung von monatlich 10.000 RM „bis auf weiteres“ aus, vgl. BArch R/43 II/1646b: Auszahlungsanordnung der Reichskanzlei, 10.4.1939.
[5] BayHStA, MK 51588: Bayerisches Staatsministerium für Finanzen an das Staatsministerium des Inneren, 31.10.1942.

Zurück zu Herrn Levi. Von der Veranstaltung hatte ich durch den Newsletter des Stadtarchivs München erfahren, das auch die Organisation übernommen hatte. Das klang nach: Wir hören ein bisschen Musik von Levi, sehen einen kurzen Dokumentarfilm und bekommen ein paar Briefe vorgelesen. Im Prinzip war’s das auch, aber zusätzlich stellte der Musikwissenschaftler Martin Wettges Ausschnitte aus seiner Dissertation zu Levi vor, die leider noch nicht geschrieben ist. Er wies auf die Zeitschrift „Kneipzeitung“ der Künstlergesellschaft Allotria hin, die Levi 1884 eine Ausgabe ihrer Zeitung widmeten, und erwähnte die rassistische Zeichnung auf dem Titelblatt. Wir hörten ihn am Flügel zusammen mit einem Tenor der Wiener Staatsoper, die unter anderem das Lied „Der letzte Gruß“ aufführten. Ohne Wettges Hinweis hätte ich das Lied vermutlich nicht auf YouTube gesucht, danke!

Der kurze Dokumentarfilm erwähnte die Kontroverse um Levis Grab in Garmisch-Partenkirchen, dessen Entwurf die Künstlerin Franka Kaßner klugerweise ebenfalls mit „Der letzte Gruß“ betitelte. Der größte Teil des Films befasste sich aber mit Levis Dirigententätigkeit in Bayreuth, vor allem der von ihm geleiteten Uraufführung des Parsifal. Ich zitiere etwas länger Alex Ross und sein „Die Welt nach Wagner“, S. 297–300:

„Bei der Premiere von Parsifal stand der Dirigent Hermann Levi im ‚mystischen Abgrund‘ [das mit einem Deckel unsichtbar gemachte Orchester, A. G.]. Er war Kapellmeister der Hofoper in München und Nachfahre vieler Generationen deutscher Rabbiner. Wie ein jüdischer Musiker dazu kam, Wagners ‚Bühnenweihfestspiel‘ zu dirigieren, ist eine kuriose Geschichte. Ludwig II. hatte das Ensemble der Hofoper für den Parsifal nach Bayreuth ausgeliehen, und Levi war dabei. Wagner hatte damit seine Schwierigkeiten. Er schätzte Levis musikalische Arbeit, nannte ihn sein ‚Alter Ego‘, fand es aber sonderbar, dass ausgerechnet das ‚christlichste aller Kunstwerke‘ von einem Juden dirigiert werden sollte. Er schlug vor, Levi taufen zu lassen – ein respektloser Vorschlag, den dieser ablehnte. Levi dirigierte Parsifal als Jude. In den folgenden Jahren ließ er koscheres Essen nach Bayreuth bringen, wenn sein Vater ihn besuchte.

Der Schriftsteller und Dramatiker Paul Heyse warf Levi, vor, sich einem Mann verpflichtet zu haben, der ‚jede Gelegenheit wahrnimmt, seinem fanatischen Hass gegen Deine Stammesgenossen Luft zu machen.‘ Levi musste in Wagners Diensten tatsächlich Demütigungen hinnehmen, verlor aber nie den Glauben an den Menschen Wagner und seine Musik. ‚Er ist der beste und edelste Mensch‘, sagte Levi zu seinem Vater. ‚Auch sein Kampf gegen das, was er Judentum in der Musik und in der modernen Literatur nennt, entspricht den edelsten Motiven, und daß er kein kleinliches Risches [ein jiddisches Wort für ‚Bosheit‘ im Zusammenhang mit Antisemitismus] hegt, (…) beweist sein Verhältnis zu mir, zu Joseph Rubinstein, und seine frühere intime Beziehung zu Tausig, den er zärtlich geliebt hat.‘ Levi spricht hier von den Pianisten Rubinstein und Carl Tausig, die ebenfalls ein schwieriges Verhältnis zu Wagner hatten. Rubinstein, der an einer psychischen Erkrankung litt, hatte sich Wagner als einen Juden vorgestellt, der ‚nach Erlösung durch Mittätigkeit an der Aufführung der Nibelungen‘ trachtete, wie Cosima in ihrem Tagebuch schrieb. […]

Die Juden in der Umgebung Wagners werden seit langem als Paradebeispiel für den Selbsthass dargestellt. Der Philosoph Theodor Lessing behauptet in Der jüdische Selbsthass von 1930, Levi und andere hätten Wagners antisemitische Tiraden im Grunde bestätigt, weil sie ihm nicht widersprachen. Der Historiker Peter Gay charakterisiert die Beziehung zischen Wagner und Levi als eine beinahe masochistische, bei der das Opfer sich einem Gebieter freiwillig ausliefert. Laurence Dreyfus dagegen ist überzeugt, dass diese Pathologisierung Levi nicht gerecht wird. Der Dirigent blieb unabhängig und unterhielt auch während seiner Zeit in Bayreuth Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft und zur Münchner Synagoge. Philipp Eulenberg, ein Vertrauter von Wilhelm II., berichtete dem Kaiser in einem Brief, wie Levi extremistische Äußerungen in den Unterhaltungen in Bayreuth unterdrückte, indem er Hustenanfälle vortäuschte, wenn Cosima gegen fremde Einflüsse in der deutschen Kultur wetterte. Alles in allem scheint Levis Verhalten weniger ein Beispiel für Erniedrigung zu sein, sondern eher ein Fall von doppeltem Bewusstsein. Howard Winant bezeichnet das als Internalisierung von Rassenunterschieden, ein Abwehrmechanismus gegen die Unterdrückung. Die Existenz jüdischer Wagnerianer wurde zum ersten Mal während der Kontroverse über die Neuauflage von Das Judenthum in der Musik diskutiert, da eine beträchtliche Anzahl von Juden dem Komponisten die Treue hielten. Tausig schickte 1869 ein Telegramm an Wagner, in dem er schrieb, dass eine Lohengrin-Aufführung in Berlin den Schaden wettgemacht habe, der durch den Aufsatz entstanden war: ‚Kolossaler Erfolg des Lohengrin, alle Juden versöhnt.‘ Als das Telegramm öffentlich wurd, entspann sich eine Diskussion, ob eine solche Versöhnung überhaupt möglich sei. […] Bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus diskutierten jüdische Opernbesucher. Einige plädierten für einen Boykott, andere argumentierten, dass ‚wir uns besser rächen können, wenn wir seine Musik hören.‘ […] Für einige deutsche Juden war die Verbundenheit mit Wagner eine Art Schutzschild, das ihre Andersartigkeit reduzierte und sie als gute Nationalisten auswies.“

Wettges erwähnte, dass Levi selbst die rassistischen Äußerungen von Houston Stewart Chamberlain „interessant“ nannte.

Der Abend im Künstlerhaus war unerwartet dicht und spannend, allerdings auch über zwei Stunden lang. Wie F. so schön meinte: „Wie am Freitag bei Levit – alles toll, aber man kann irgendwann nicht mehr sitzen.“ Entspannter Spaziergang nach Hause, erneut viel mitgenommen. Das war ein außergewöhnnlich schönes Wochenende, aber jetzt tun mir die Füße weh und mein Kopf ist erstmal voll.