Tagebuch Montag, 15. November 2021 – Hammerklaviersonate

Ich habe den halben Tag im Zug nach Norden verbracht, frisch getestet und drittgeimpft, an mir sollen die Inzidenzzahlen nicht liegen. Dort hörte ich wie immer den Beethoven-Podcast mit Igor Levit, den ich seltsamerweise wirklich nur auf diesen Fahrten höre. Inzwischen bin ich in den 32 Folgen bei der 29. angelangt, wo es um die Hammerklaviersonate geht, hier von Levit eingespielt. Dort kam folgender Dialog, den ich sehr passend fand, leicht editiert:

„Es ist anders als alles vorhergegangene. Steig ein, lass dich drauf ein […] ohne Blessuren gehen wir hier nicht raus. Niemand geht aus der Hammerklaviersonate ohne Blessuren raus. Wer das schafft, mit dem habe ich Mitleid. […]

Es ist so schwer. So viel man zu diesem Stück sagen muss, sagen sollte und sagen und zeigen kann – es ist eigentlich zu viel für ein Gespräch, für ein Konzert, für ein Hörerlebnis, für einen Podcast – es ist zu viel. Ich kann an diesem Stück ziemlich gut mein grundsätzliches Problem mit Musikvermittlung herleiten. Zum Beispiel mein Problem mit Konzerteinführungen.“ Levit erzählt von einem Fugenthema im vierten Satz in der Sonate, das irgendwann im zweiten Teil eines Konzerts gespielt wird, nachdem die Einführung um 18.30 Uhr war, das Konzert begann um 19.30 Uhr, gegen 20.30 Uhr gab’s die Pausenhäppchen und einen Sekt, und dann irgendwann um 21.30 Uhr kommt diese Fugenstelle, die in zehn Sekunden vorbei ist: „Drei Stunden vorher wird erzählt, da irgendwann im vierten Satz gibt’s eine perfekte Umkehrung des Fugenthemas, am besten schreibe ich es noch ins Programmheft. Wer erinnert sich denn daran? Ich [als Pianist] habe keine Zeit darüber nachzudenken, du [als Zuhörerin] hast gar keine Zeit, darüber nachzudenken, das ist eine Ãœberforderung. Das kannst du danach lesen. Ich hab ein Problem damit, weil es mir als Hörer nichts Gewinnbringendes gibt. Das Problem in diesem Stück – und die Chance in der Hörrezeption – ist: Es ist zu viel. Ich bin überfordert. Ich [als Pianist] selbst sogar. Aber die Chance ist: Du kannst die Leute einfach an der Hand packen und sagen: Tauch ein, jetzt wird’s brutal.“

„Ist das nicht fast eine religiöse Frage? Es gibt Texte, Hervorbringungen, Phänomene, die sich erst in der wiederholten Rezeption überhaupt öffnen können. Musik ist so schrecklich und so brutal in ihrem Vorübergehen, dass es ja Leute gibt wie Rudolf Kolisch, die gesagt haben, das ideale Musikerlebnis ist das lesende, denn die Stellen in ihrer komplexen Verwobenheit können wir beim Lesen immer wieder abtasten wie ein Gemälde, als wäre es tatsächlich etwas Visuelles. Tatsächlich ist aber dieses Vorübergehen und ständig etwas Verpassen und ständig in die eigene Unsicherheit geworfen zu werfen, eigentlich das, was die Musik so unverzichtbar macht: eine Demutsübung. Hier ist etwas, da muss ich mich anstrengen.“

„Deswegen liebe ich dich, weil du gerade was gesagt hast, von dem ich mir wünschen würde, man würde es vor Konzerten mal hören: Das ist jetzt die essentielle Information über das, was dir geschehen wird. Es ist nicht die essentielle Information, sich mit erhobenem Zeigefinger hinzustellen und zu sagen, hier kommt eine Fugenumkehrung. […] Wichtig zu wissen ist das, was du eben gesagt hast: das ständige Geworfenwerden in die eigene Unsicherheit.“

„Aber es gibt ja eine Ordnung, es ist ja zivilatorisch etwas ganz Großartiges. Es gibt von Harnoncourt ein schönes Bild. Er meinte, Brahms habe so komponiert wie die gotischen Baumeister, die selbst Stellen, die nie ein irdisches Wesen sehen würde, mit Skulpturen verziert haben. Dieses Wissen, es gibt Codes, sichtbar und unsichtbar. Es gibt ganz viel Ordnung in diesem Werk, die wir beim ersten Mal wahrnehmen, aber wir wissen auch, es gibt noch so viel mehr.“

Das nicke ich alles total unwissend ab. Hört die Hammerklaviersonate, es macht den Tag besser.