Was schön war, Donnerstag, 9. Dezember 2021 – Vorlesung und Walnussschaum
Im letzten Semester folgte ich per Zoom Michael Wildts Vorlesung an der Humbold-Universität über den Holocaust. Danke, du Scheißvirus, denn auch in diesem Semester findet die Vorlesung online statt: „13 Bücher, die das Bild von Nationalsozialismus und Holocaust geprägt haben.“ Die erste Sitzung hatte ich verpasst, in der von letzter Woche ging es um die Erinnerungen von Albert Speer, die keine waren, sondern hervorragend fabrizierte Fiktion. Was ich unter anderem mitnahm: Das Buch erschien 1969, und es führte in diesem Jahr und 1970 die Spiegel-Bestseller-Liste an. Wildt: „Wenn Sie mal im Bücherschrank Ihrer Großeltern schauen, gerade wenn diese eher bürgerlich sind, werden Sie es vermutlich finden.“ Ich erinnerte mich daran, wie uralt ich bin, denn ich musste nur im Schrank meiner Eltern schauen bzw. ich wusste, dass es dort war, denn von dort habe ich es schon vor Monaten mitgenommen (2. Auflage, 1969). Jetzt wohnt es neben der Biografie von Magnus Brechtken, die Wildt sehr empfahl – sinngemäß: „Damit sollte sich das falsche Bild Speers endgültig erledigt haben.“ Zweiter Buchtipp von ihm: Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik von Isabell Trommer, das ich schon in der Hand hatte; ich zitierte es in der Masterarbeit, in der es auch um die Nichtaufarbeitung der NS-Zeit in der jungen Bundesrepublik ging.
Gestern ging es um drei weitere Bücher, von denen mir wenigstens zwei bekannt waren. Zunächst besprach Wildt Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland (1993) von Christopher Browning, der die massenhafte Beteiligung der Deutschen am Holocaust mit Gruppenzwang erklärte (sehr verkürzt formuliert). Daniel Goldhagen nutzte dasselbe Quellenmaterial, allerdings eher auszugsweise, und nannte den historisch gewachsenen Antisemitismus im Deutschen Reich als Grund. Sein Buch Hitler’s Willing Executioners (1996) war in Deutschland ein Beststeller, wurde aber von der Wissenschaft einhellig abgelehnt; die Diskussion ist im Wikipedia-Link zu Goldhagen gut nachvollzogen. Das dritte Buch war mir neu: Stefan Kühls Ganz normale Organisationen (2014) nutzt erneut dieselben Quellen, verfolgt nun aber einen soziologischen und keinen historischen Ansatz. Hier ein Ausschnitt aus der Rezension (2016) von hsozkult:
„Kühls neuerliche Beschäftigung mit dem Reserve-Polizeibataillon 101 schließt eine Lücke, die frühere Interpreten aufgrund ihrer primär an der Persönlichkeit der Täter interessierten Herangehensweise gelassen haben. Ausgehend von der Einsicht, „dass mehr als 99 Prozent aller Tötungen von Juden durch Mitglieder staatlicher Gewaltorganisationen durchgeführt wurden“ (S. 22), nimmt Kühl einen systematischen organisations-soziologischen Blickwinkel ein. Dabei stützt er sich auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns, und zwar jenen Theoriebaustein, der sich mit sozialen Systemen vom Typ „Organisation“ befasst. […] „Die ganz normalen deutschen Männer haben […] erst im Rahmen von Organisationsmitgliedschaften die Bereitschaft entwickelt, einem in vielen Fällen vorhandenen latenten Antisemitismus auch eine konkrete Beteiligung an Deportationen, Ghettoräumungen und Massenerschießungen folgen zu lassen.“ (S. 33f.) Demnach war die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Organisation, hier zum Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101, eine notwendige Bedingung, damit „ganz normale Männer“ am NS-Massenmord mitwirkten; sie mussten nur die entsprechenden Befehle akzeptieren. Kühls soziologischer Ansatz besteht darin, diesen Sachverhalt mittels eines Parameters zu analysieren, den er an anderer Stelle „Folgebereitschaft in Organisationen“ nennt.“
Das Buch wartet schon in der Stabi auf mich. Falls Sie Donnerstags zwischen 10.15 und 11.45 Uhr Zeit haben, schauen Sie doch mal per Zoom in der Vorlesung vorbei, lohnt sich.
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Have You Considered Accountancy?
Gerne gelesen: die Rezension zu How to Start Writing (and When to Stop): Advice for Writers von Wisława Szymborska, herausgegeben und aus dem Polnischen ins Englische übersetzt von Clare Cavanagh, in der Literary Review. Die polnische Autorin Szymborska erhielt 1996 den Nobelpreis für Literatur, aber, viel spannender: Sie führte von den 1960er bis in die 1980er Jahre eine Kolumne, in der sich Autoren und Schriftstellerinnen ratsuchend an sie wandten. Zum allergrößten Teil riet sie den Fragenden, ihre Arbeit zu vernichten und lieber etwas anderes zu machen. Diese Kolumnen sind nun im Buch versammelt.
„Inverting the old cliché, Christopher Hitchens said, ‘Everyone has a book in them and that, in most cases, is where it should stay.’ The journalist and satirist Karl Kraus agreed: journalists, especially, should never write novels. This was self-satire, partly. Yet there are writers who can barely go to the shops without publishing a voluminous account immediately afterwards. At the other end of this unscientific spectrum are writers who destroy their work, either because they think it’s rubbish (Joyce, Stevenson, etc) or because they’ve become recently convinced it was written by the Devil (Gogol). Some people doubt themselves far too much, others not remotely enough. […]
Szymborska is such an ironic writer that I began to wonder if there ever were any actual submissions, if the columns were an extended literary joke. Perhaps I have been living in postmodernism for too long. Perhaps it doesn’t matter so much. The real interest lies in Szymborska’s writing on writing. Each column is a concise treatise. In one, she argues that language is ossified poetry and everything is metaphorical. In another, she proposes that literary realism as a set of conventions has nothing to do with reality at all. Society is in chaos, she adds:
„Generations no longer talk to each other. It’s a misfortune of our times … We can’t explain the causes or predict the results. One thing is certain: literature will be the poorer. Curiosity is the key to its existence … Your stories are cramped, stuffy, and simplistic. There is no window on the world, hence no chance it might be opened. This is bad. A snappy style won’t save you.“ […]
Most of Szymborska’s advice is like this: parodic and serious at the same time. The situation is tragicomic. Life is unfathomable, writing is a part of life, so how can we judge anything at all? Yet it’s hard to write a novel without some sort of basic belief in the novel. It’s like trying to make an omelette while disbelieving in the reality of eggs. In the end, Szymborska is so tough on her aspiring authors not because they care too much about writing but because she thinks they care too little. Her advice is monumentally sensible. Don’t be a narcissist. Work (much) harder. The best ‘writing utensil’ is a wastepaper basket. Life is short, yet ‘each detail takes time’. Don’t be a utopian. Keep away from the void for as long as you can. Who can argue with that?“
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Der übliche Abendessenbericht: Es gab meine geliebten Ofenmöhren mit Walnussschaum. Hier das Rezept, hier die Instafotos von gestern. Es waren gerade zwei dicke Möhren, die ich in Backpapier mit Butter und Zitrone und Thymian verpackte, aber durch den Schaum, der bei mir eher wie eine Sauce Hollandaise wird, ist das ganze eine äußerst nahrhafte Mahlzeit. Übriggebliebene Sauce kann man auch prima als Dip nutzen (erledigt und pappsatt).