Abschied nehmen
Papa war seit letztem August im Pflegeheim, weil seine Versorgung zuhause aus verschiedenen Gründen nicht mehr möglich war. Ich hatte immer das Gefühl, dass es ihm dort gut ging. Sein Zimmer ging nach hinten raus; vor dem Fenster waren nur hohe Bäume zu sehen, er konnte immer ins Grüne gucken und hörte das Rauschen der Blätter. Das Personal hat gerne die Gardine zurückgezogen gelassen, damit er das ganze Grün sehen konnte.
In den letzten Monaten konnte Papa sich kaum noch bewegen und wurde mehrfach am Tag umgebettet. Die Pflegekräfte haben an die Wandstellen, an die er dann so lange geschaut hat, wenn er das Fenster nicht sehen konnte, bunte Bilder von Pflanzen und Blumen aufgehängt, damit er weiterhin Natur um sich hatte. Wir hatten andere Bilder an die Wände gehängt: ein Foto seiner Mutter, sein Lieblingbild von Dürer (natürlich der Hase) und einen riesigen Druck von einem Gemälde, auf dem ein Segelschiff zu sehen ist. Das hing zuhause über seinem Pflegebett, das im ehemaligen Esszimmer stand (weil Erdgeschoss). Als Papa ins Heim kam, wurde aus diesem Zimmer wieder das Esszimmer, aber auf das Bild hatte er nun zweieinhalb Jahre geschaut, und immer wenn er fragte, wo er denn hier eigentlich sei, haben wir auf das Bild gezeigt und gesagt, du bist zuhause, Papa, guck, hier ist das Segelschiff, das haben Mama und du damals gemeinsam gekauft. Dann hat er genickt und ja gesagt. F. hatte das Bild zum letzten Weihnachtsfest in druckbarer Größe abfotografiert und das Foto auf Leinwand ziehen lassen, damit er auch im Heim sein Schiff hatte.
Das letzte Lied auf der Beerdigung war „Rolling Home“.
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Papa ist friedlich eingeschlafen und Mama war bei ihm und hat seine Hand halten können. Meine Schwester war zwei Stunden später im Heim und konnte Totenwache halten. Als der Bestatter kam, fragte er, ob er Papa seine Brille aufsetzen solle: „Ich kenne ihn doch nur mit Brille.“ Dorf halt.
Als ich das letzte Mal bei Papa war, gute zwei Wochen vor seinem Tod, hatte er gerade noch Ergotherapie bekommen und war von allem angenervt, wollte nicht reden und zugetextet werden. Also habe ich nur seinen Arm gestreichelt und stumm mit ihm ferngesehen. Am Tag zuvor war er ansprechbarer und hat auch noch auf Fragen reagiert: „Möchtest du was trinken?“ Ja. „Hast du Schmerzen?“ Nein. Als ich gegangen bin, habe ich so lange Tschüss zu ihm gesagt, bis er es zurückgesagt hat. „Tschüss.“
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Auch Dorf. Das Fachwerkhaus, das seit Jahren vor sich hinverfällt, verfällt jetzt ganz. Angeblich werden Balken und Steine für einen Neuaufbau gerettet, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Weihnachten hatte ich noch das Dach fotografieren können, inzwischen ist es abgetragen.
Die Bibliothek tröstet immer, auch nur von außen.
Und der Torpfeiler, der im Dorfwappen zu sehen ist. Keine Ahnung warum, aber ich freue mich immer, wenn ich ihn sehe. Er verortet mich irgendwie. Hier komme ich her.
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Wir konnten uns ab Ende Mai darauf einstellen, dass nun der letzte Teil von Papas Reise begonnen hatte. Die schwarzen Klamotten waren rausgelegt, das Bestattungsunternehmen informiert. Ich begann auf Mamas Wunsch, Traueranzeigen zu formulieren, suchte Zitate, verwarf welche, textete selbst. Eigentlich war auch schon alles entschieden, aber als es nun wirklich darum ging, sich auf einen Text zu einigen, entpuppte sich die Familie als Kunde: Jeder wollte etwas anderes, und zum Schluss nickte ich einfach irgendwas ab. Ich werde noch Jahre damit hadern, dass in der Anzeige nun „Du hast uns zum Lachen gebracht“ von „Wir sind traurig“ gefolgt wird, weil das in meinen Profiohren total clasht, aber bei meiner Schwester und mir war irgendwann der Punkt erreicht, an dem wir nur noch wollten, dass Mama zufrieden ist.
Wir hätten gerne ein Heinz-Erhard-Zitat untergebracht und wir sind uns sicher, dass das auch Papa gefallen hätte, aber das war schon in der ersten Abstimmungsrunde raus. Schade.
„Kaum dass auf diese Welt du kamst,
zur Schule gingst, die Gattin nahmst,
dir Kinder, Geld und Gut erwarbst –
schon liegst du unten, weil du starbst.“
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Womit Schwesterchen und ich uns allerdings durchsetzen konnten: dass ein Foto von Papa neben dem Sarg steht, was Mama partout nicht wollte. Wir hingegen wollten nicht die ganze Zeit auf die Holzkiste gucken, und nach der Trauerfeier meinten Schwester, Schwager und ich gleichzeitig, dass wir immer das Foto angesehen hatten, auf dem Papa lacht. So werde ich mich an ihn erinnern.
Was mir auch, für mich überraschend, klargeworden ist: Ich möchte doch nicht verbrannt werden. Eigentlich hatte ich das seit Jahrzehnten im Hinterkopf, weil ich irrationale Angst davor habe, lebendig in einer Holzkiste im Dunklen aufzuwachen, über mir zwei Meter Erdreich. Nun stand aber der Sarg meines Vaters vor mir, und ich konnte wenigstens diese Kiste nochmal umarmen, streicheln, sie anfassen, weil ich wusste, dass Papa noch da ist. Dieses Gefühl wird aufhören, sobald sein Körper zu Asche geworden ist, und ich glaube, das möchte ich für mich doch nicht. Ich möchte so lange wie möglich da sein, hier sein, körperlich anwesend sein. Und irgendwann dann halt Dünger, das ist in Ordnung.
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Wir hatten länger über eine Grabstelle auf dem Dorffriedhof nachgedacht. Der Bestatter meinte, die Urne könnte zu Papas Eltern ins Grab, genau wie die von Mama irgendwann und sogar wir Kinder würden noch in das Doppelgrab passen. Interessante Gesprächsführung; ich war glücklicherweise nicht dabei, sonst hätte ich genauso entgeistert geguckt wie jetzt beim Aufschreiben. Diesen Platz wollte Mama aber nicht, was wir nachvollziehen konnten, denn ihre eigene Mutter liegt auch auf diesem Friedhof, und wenn schon zu irgendwelchen Eltern, dann doch da hin, aber dann wäre sie halt nicht bei Papa, was wir alle doof fanden.
Also bot der Friedhofsgärtner weitere Plätze an, zum Beispiel im sogenannten Rhododendrongarten II. Der Garten I, in den nur Urnen kommen, ist schon belegt, der Garten III entsteht gerade. Im zweiten Garten waren aber nur noch Plätze direkt am Hauptgang frei, das Mütterchen so: „Da rennen dann dauernd Leute vorbei, da hat man nie seine Ruhe.“ Was sich für mich aus München am Telefon total albern anhörte, denn das dürfte Papa egal sein, ob da Leute an seiner Urne vorbeirennen, kam mir dann vor Ort total logisch vor: Da rennen halt wirklich dauernd Leute rum, da hat man nie seine Ruhe. Und Papa hatte sehr gerne seine Ruhe, das habe ich eindeutig von ihm geerbt.
Der Gärtner kennt uns schon lange und ich ahne, dass auch das damit etwas zu tun haben könnte, Dorf halt, denn nun wird Papas Grab das erste im Rhododendrongarten III. Dort sind fünf Plätze markiert, er bekommt den mittleren, zu dem schon ein Weg führt. Das erste Gras ist ausgesät und wir konnten am Freitag, am Tag der Feier, schon die ersten Halme und Grasflecken sehen, die bald dichter und grüner sein werden. Er liegt direkt unter zwei Eichen, die sich über der Grabstelle mit den Ästen berühren, und darunter wächst Rhododendron, die Pflanze, die auch unseren ganzen Garten zuhause überwuchert, weil er die nun einmal so gerne mochte. Es ist sehr still dort, meist schattig, und das ist ein wirklich schöner Platz. F. meinte, dass wegen der Eichen wohl auch öfter Eichhörnchen vorbeikommen würden, was für mich auch ein schöner Gedanke ist.
Nach der Trauerfeier hatte die Bestatterin das Sarggesteck schon auf das zukünftige Grab gelegt, damit wir es uns nach dem Leichenschmaus noch einmal anschauen konnten. Ich wollte gerade an der Grabstelle besinnlich werden, als mir einfiel, dass ich hier nur auf schöne Sonnenblumen und Physalis guckte, weil Papa ja noch im Sarg in der Kapelle war.
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Ich hatte ein bisschen Angst vor der ganzen Kondoliererei und dem Leichenschmaus gehabt, weil ich vom ganzen Dorf fast niemanden mehr kenne und auch dachte, dass ich nach der Feier nur noch alleine verheult in der Gegend rumstehen wollte. Aber das tröstete schon sehr, dass einige Menschen da waren und mir ihr Beileid aussprachen. Ich habe mich auch sehr über eure Karten oder Nachrichten auf anderen Wegen gefreut, so doof der Anlass auch ist.
Zum Leichenschmaus war auch der Ex-Kerl aus Hamburg gekommen, worüber ich mich ebenso freute. Die Stimmung war auch nur in den ersten Minuten besinnlich, dann machten die ersten Anekdoten von Papa die Runde – „Er hat immer zur Weihnachskollekte ein kleines Stückchen Käse in Alufolie gewickelt und mit dem Geldschein in den Klingelbeutel gelegt – für die Kirchenmaus“ – „Er hat auf alles Maggi gegeben, ohne zu probieren“ – „Die halbe Kühltruhe war voll mit Schinken, den er beim Preisskat gewonnen hatte“ –, und irgendwann redete man bei Blutwurst, Hack und Zuckerkuchen („Beerdigungskuchen“) über ganz andere Dinge, zum Beispiel Frauenrugby. Auch deswegen fand ich es schön, dass Kai den Weg auf sich genommen hatte. Schwesterchen und Schwager sind fest im Dorfleben verankert, die hatten 30 Gesprächspartner; ich hatte F. und Kai.
Und irgendwann zum Schluss noch ein paar Verwandte, die ich alle zehn Jahre mal sehe. Eine fragte mich dann auch, wo ich eigentlich gerade sei, Bremen? München. Ach, München. Und dann nach einer kleinen Pause: „Das ist hier alles nicht so deins, oder?“ Woraufhin ich, vermutlich zum ersten Mal, ehrlich meinte: „Nein.“ Ist es nicht. Es ist schön, hier zu sein, für wenige Tage, auf der elterlichen Terrasse zu sitzen und das ganze Grün und die ganze Ruhe und dass auf den Straßen nicht so viel los ist und die Gemeindebibliothek und der Wappenpfeiler. Aber dann will ich doch ganz dringend wieder in die Stadt, wo Busse nicht nur zu Schulzeiten fahren und ich nicht ins Nachbardorf pendeln muss, um zum Hausarzt zu kommen oder 20 Kilometer in die Großstadt zur Fachärztin. Landleben ist bestimmt schön, aber alt werden möchte ich dort nicht.
Aber Papa war dort immer gerne, und das freut mich, dass er das Leben leben konnte, was er sich vorgenommen hatte. Ich bin froh darüber, dass ich noch von ihm Abschied nehmen konnte; das hatte ich mir im Heim angewöhnt, ihm immer zu sagen, dass ich ihn liebhabe, weil ich nicht wusste, wie oft ich es ihm noch sagen werde können. Und deshalb halte ich mich auch an dem letzten Tschüss so fest, auch wenn es nicht die letzten Worte sind, die ich mit ihm gesprochen habe.
Mach’s gut, Papa. Ich hab dich lieb.