Dienstag, 6. Dezember 2022 – Charakter
Der Nikolaus aka F. legte mir ein Buch aufs Kopfkissen: „The Essential Questions. Interview your family to uncover stories and bridge generations“ von Elizabeth Keating. Signiert war es unter anderem mit dem Satz: „Weil auch die klügsten Forscher immer noch besser werden können.“
Das Buch lese ich bis Weihnachten durch und frage dann meine Mutter, wie das Haus aussah, in dem sie aufwuchs, ob es eine Geschichte hinter ihrem Vornamen gibt, ob sie sich an einen Moment erinnern kann, an dem sie erstmals dachte: „Das bin ich?“ und was sie für ihre Hauptcharaktereigenschaften hält. Schon bei der letzten Frage müsste ich nämlich passen.
F. und ich sprachen am Wochenende über eine meiner Charaktereigenschaften: Immer, wenn ich Dinge kann, werden sie mir langweilig. Daher habe ich bis jetzt noch jeden Job irgendwann gewechselt, weil ich das Gefühl hatte, nichts mehr (oder nichts Relevantes mehr) dazulernen zu können. Klar ist in der Kneipe jeder Abend anders, aber ich zapfe halt immer Bier oder schleppe Teller. Klar passiert im kleinen Städtchen dauernd was, aber meine Artikel lesen sich irgendwann alle wie die vom letzten Schützenfest. Klar habe ich in der Werbung immer neue Kunden, aber Werbung bleibt halt Werbung: LOOK AT ME LOOK AT ME LOOK AT ME! Vielleicht stelle ich auch deshalb dauernd Möbel um oder streiche Wände oder ziehe in andere Städte: Das hier hab ich alles lange genug sehen, da drüben könnte es ja spannender sein.
Damit will ich nicht sagen, dass diese Eigenschaft super ist. Ich habe mich schon öfter gefragt, ob ich ewig dem möglicherweise grüneren Gras in der Ferne nachjagen will anstatt endlich einfach hier nur zu sitzen. F. erwähnte mein Studium, auf das er mit der Widmung anspielte, und dass mir die Kunstgeschichte bzw. die Wissenschaft anscheinend nach zehn Jahren noch nicht langweilig geworden ist, obwohl der Doktortitel da ist und damit das realistische Ende der Fahnenstange. Aber er erwähnte eben auch die Sache, die mich am Anfang des Studiums wahnsinnig gemacht hat bzw. es an manchen Tagen immer noch tut: Die Forschung ist nie fertig. Sie hört nie auf. Es gibt immer noch eine Akte, ein Gemälde, ein Schreiben, eine Person, über das oder die ich noch nicht gestolpert war. Aber jetzt ist das auf meinem Radar und ich kann weiterwühlen.
Vielleicht ist die Wissenschaft der Job, der mich nie langweilen wird, weil er eben nie fertig ist. Vielleicht ist das, was ich als Deadline-Maus mit Ziellinien vor Augen so anstrengend fand – nämlich, dass es immer nur Zwischenziele gibt –, genau der Segen, den ich immer gesucht habe. Und wo ich immer besser werden kann.